V-förmige Erholung ist nicht unser Kernszenario

05.11.2020

Felix Herdmann, BlackRock-Kapitalmarktstratege / Foto: © BlackRock

2020 ist anders. Die Volatilität ist punktuell zurückgekehrt und dem heftigen Rücksetzer im Frühjahr folgte eine atemberaubende Rally an den Börsen. Ist das Pulver für weitere Anstiege jetzt schon verschossen? Haben Tech-Werte ihren Zenit überschritten? BlackRock-Kapitalmarktstratege Felix Herrmann ging im Gespräch auf diese und weitere Aspekte ein. Das Interview wurde Mitte August geführt.

finanzwelt: Dieser Tage gewinnen Investoren den Eindruck, dass sich die Aktienmärkte so schnell von einem heftigen Einbruch erholt haben wie selten zuvor. Dabei geben die konjunkturellen Daten keinen Anlass zu übergroßem Optimismus. Haben sich die Aktienmärkte von der Realwirtschaft entfernt? Felix Herrmann» Die Kurse haben sich keineswegs ganz zu Unrecht so schnell erholt. Denn es sieht so aus, als würde die Wirtschaft weitaus schneller auf den Wachstumspfad zurückkehren als zunächst angenommen. Das liegt nicht zuletzt an der beispiellosen Reaktion der Politik. Sie hat entschlossener und umfassender gehandelt als in früheren Krisen. Zudem haben die jüngsten Konjunkturdaten eher positiv überrascht. Das macht Hoffnung, auch wenn die Konjunktur noch im Keller steckt.

finanzwelt: In den zurückliegenden Jahren schlugen sich US-Aktien (insbesondere US-Tech) viel besser als ihre europäischen Pendants. Welche Aspekte könnten nun für eine Trendwende sprechen? Herrmann» Der Ausblick für die USA ist unsicherer geworden. Erstens im Hinblick auf die Wahlen im Herbst, deren Ausgang ungewiss ist. Zweitens wegen des Umgangs der US-Regierung mit der Corona-Krise, deren Fallzahlen in den USA stärker steigen als in Europa. Und drittens wegen anhaltender Spannungen zwischen den USA und China. Daher hat das BlackRock Investment Institute (BII) US-Aktien zum Halbjahr auf ein neutrales Gewicht herabgestuft. Gleichzeitig hat es europäische Aktien auf ein Übergewicht heraufgesetzt. Denn Europa hat die Corona-Krise bislang besser bewältigt und mit dem EU-Wiederaufbaufonds ein umfangreiches Konjunkturpaket auf den Weg gebracht. Europäische Aktien sind für uns die attraktivste Möglichkeit, von einem zyklischen Aufschwung zu profitieren.

finanzwelt: Wie steht es in diesem Kontext um die deutsche Wirtschaft, deren BIP im 2. Quartal drastisch gesunken war? Eine „V-förmige“ Wirtschaftserholung ist damit doch ausgeschlossen? Herrmann» Eine perfekt V-förmige Erholung der deutschen Wirtschaft ist möglich, aber mit einer Wahrscheinlichkeit von rund 20 % nicht unser Kernszenario. Denn die Bedingungen, die dafür erfüllt sein müssten, sind sehr sportlich. Am wahrscheinlichsten ist wohl eine Swoosh-förmige Erholung, deren Verlauf an das Markenzeichen eines bekannten US-Sportartikelherstellers erinnert. Diesem Szenario messen wir eine Wahrscheinlichkeit von 50 % bei.

finanzwelt: Mitunter lohnt auch ein Blick auf die Emerging Markets. Wie sind die Schwellenländer, auch im Vergleich zur Wirtschafts-/Finanzkrise 2008/09, heute aufgestellt? Herrmann» Viele Emerging Markets sind im Vergleich zu früher gestärkt in die Corona-Krise gegangen. Allerdings sind die Gesundheitssysteme in einigen Ländern schlecht aufgestellt, und die Pandemie ist allem Anschein nach noch nicht vorbei. Das führt auch dazu, dass die wirtschaftliche Aktivität mancherorts noch nicht wieder voll hergestellt ist, und dass die Schulden teilweise steigen. Dabei gibt es zwischen den einzelnen Ländern große Unterschiede. Insofern kommt es bei Investments in Schwellenländer mehr denn je darauf an, auf aussichtsreiche Länder und Unternehmen zu setzen. (ah)