Das Land im „Schulden-Hangover"

21.11.2023

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Mit Blick auf die wenigen Wochen bis zur Jahreswende ist es Zeit für eine Rückschau auf die Entwicklungen der vergangenen Monate. Wie ist die Politik der Notenbanken dies- und jenseits des Atlantiks einzuordnen? Welche Opportunitäten tun sich aktuell und in der Vorausschau auf 2024 an den Aktien- und Anleihemärkten auf? Dr. Eduard Baitinger ist Head of Asset Allocation in der FERI Gruppe und stand Rede und Antwort.

finanzwelt: Herr Baitinger, nach wie vor beschäftigt uns die Notenbankpolitik (rund um den Globus) sehr. Zuletzt beließen die Fed-Notenbanker die Zinsen bei 5,25 bis 5,50 Prozent. Ist das nach Ihrer Meinung und zum jetzigen Stand die endgültige Flughöhe für diesen Zyklus?

Dr. Eduard Baitinger: Das Thema monetäre Straffung und Inflation waren dieses Jahr, neben dem KI-Hype, die entscheidenden Markttreiber. Während die monetäre Straffung eine klare Belastung dargestellt hat, war die Inflation, besser gesagt die Disinflation, auf Jahressicht ein positiver Gegenpol für die Märkte. Zuletzt hat sich dieser disinflationäre Trend fortgesetzt und wurde zusätzlich von ersten veritablen Schwächesignalen aus der US-Konjunktur flankiert. Angesichts der Tatsache, dass die bisherige Zinsstraffung noch nicht vollständig in der Realwirtschaft angekommen ist, sind in der aktuellen Gemengelage weitere Zinsschritte geradezu unverantwortlich. Die Fed dürfte in den kommenden Treffen eine abwartende Haltung einnehmen. Da wir im Basisszenario keine zweite Inflationswelle erwarten und eine Eintrübung der US-Konjunktur, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das aktuelle Leitzinsniveau den Höhepunkt des aktuellen Straffungszyklus darstellt.

finanzwelt: Mit Blick nach vorne, werden die Zinsen 2024 (EU und USA) auf dem hohen Niveau verharren oder sehen wir bereits Zinssenkungen?

Baitinger: In dieser Hinsicht gibt uns die Empirie klare Hinweise: Nach dem Erreichen eines Zyklustops hat es im Durchschnitt nur wenige Monate gedauert, bis Leitzinssenkungen erfolgten. Allerdings sind gegenwärtig sowohl in der Eurozone als auch in den USA die Inflationsraten, trotz einer rückläufigen Tendenz, weiterhin klar oberhalb der 2%-Marke. Daher rechnen wir nicht mit baldigen Leitzinssenkungen seitens der EZB und der Fed und erwarten diese frühestens ab dem Frühsommer 2024.

finanzwelt: Wenn wir über die globale Wirtschaftsentwicklung sprechen, kommen wir an China, der großen Konjunkturlokomotive, nicht vorbei. In welcher Verfassung ist das Reich der Mitte?

Baitinger: Das Land kämpft, als Folge jahrelanger Schuldenexzesse, mit einer sogenannten Bilanzrezession („Schulden-Hangover“). Das heißt die Bilanzen der Wirtschaftssubjekte (z.B. im Immobiliensegment) sind derart beschädigt bzw. überschuldet, dass orthodoxe Stimulierungsmaßnahmen stark an Effektivität eingebüßt haben und daher nicht mehr die gewünschte Wirkung entfalten. Ein überschuldeter und somit nicht finanzierbarer Schuldner wird auch bei Nullzinsen seine Kreditnachfrage nicht steigern können. In dieser Konstellation wären unorthodoxe Maßnahmen sinnvoller, sind aber, angesichts der gravierenden ökonomischen Ungleichgewichte, nicht gewünscht. China dürfte angesichts dieses Dilemmas nur zögerlich stimulieren und nur begrenzt zur Dynamik der Weltwirtschaft beitragen. Die Phase des dynamischen Wachstums im Reich der Mitte ist definitiv vorbei. Längerfristig ist sogar eine Wirtschaftskrise in China ein plausibles Risikoszenario.

finanzwelt: Mit Blick auf einige Aktienindizes konnte man lange meinen, sämtliche Sorgen und Negativmeldungen seien verschwunden. Mehr Schein als Sein?

Baitinger: Dieses Jahr tendierten globale Börsen trotz globaler Wachstumsschwäche und US-Rezessionssorgen in Hinblick auf 2024 freundlich. Was zunächst paradox anmutet, ist empirisch betrachtet ein typisches Marktverhalten in Hochinflationsphasen. In solchen Marktphasen dominiert das Thema Inflation und vor allem die Inflationsdynamik, da sie maßgeblich die zukünftige Leitzinsentwicklung und damit das generelle Zinsniveau determinieren. Dieses Jahr waren die Inflationsraten zwar durchweg zu hoch, aber vielfach mit einer sinkenden Dynamik. Gleichzeitig ist der befürchtete Einbruch der Unternehmensgewinne dieses Jahr ausgeblieben. Dieser Umstand ist zum großen Teil auf die generell erhöhten Inflationsraten zurückzuführen, da Unternehmensgewinne eine nominale Größe darstellen, sprich, Inflation ist ein wichtiger Bestandteil der Gewinnentwicklung.

finanzwelt: Hierzulande blicken wir insbesondere auf den DAX & Co. Auch 2023 hat der „große“ Bruder die Geschwister M- / SDAX in den Schatten gestellt. Unter der Annahme der wirtschaftlichen Perspektiven und Bewertungsperspektiven, wie attraktiv sind die Nebenwerte bzw. werden die „Kleinen“ 2024 outperformen?

Baitinger: Small Caps haben ein katastrophales Börsenjahr erlebt. Der Bewertungsabstand dieses Segments gegenüber dem breiten Markt befindet sich mittlerweile in der Nähe eines Mehrdekadentiefs. Dieses Jahr haben Small Caps die hohen Zinsen stark zugesetzt. Kleinkapitalisierte Unternehmen weisen insgesamt eine schlechtere Bilanzqualität als hochkapitalisierte Unternehmen auf und müssen bei steigenden Zinsen kräftige Aufschläge bezahlen. Aber auch die globale ökonomische Schwäche hat dieses Segment belastet, da es eine höhere Konjunktursensitivität aufweist. In der Tat könnten Small Caps im Verlauf von 2024 ein starkes Comeback feiern. Denn im nächsten Jahr wird voraussichtlich sowohl das Leitzinsniveau als auch das Marktzinsniveau nachgeben und dadurch die Bilanzen der Small Caps entlasten. Von konjunktureller Seite ist im ersten Halbjahr 2024 zwar keine Unterstützung zu erwarten, aber in den sehr tiefen Bewertungsniveaus ist diese Konjunkturschwäche bereits weitgehend widergespiegelt und das Korrekturpotenzial zunehmend limitiert. Nach dem Durchlauf der Konjunkturschwäche dürfte das Small Caps Segment entsprechend deutlich anspringen.

finanzwelt: Abseits der Aktien locken auch Anleihen wieder mit Rendite. In welchen Bond-Segmenten lohnt ein näheres Hinschauen?

Baitinger: Durch den Zinsanstieg der letzten Jahre hat das Bond-Segment deutlich an Attraktivität gewonnen. Aktuell bieten Qualitätsstaatsanleihen mit kurzen Laufzeiten das bessere Risiko-Ertrags-Verhältnis. 2024 rechnen wir im Basisszenario mit nachlassender Inflation und zunehmenden Konjunkturrisiken. Dieses Umfeld spricht für Qualitätsstaatsanleihen mit längeren Laufzeiten, da diese stärker vom Rückgang der Marktzinsen profitieren. Allerdings ist erfahrungsgemäß das passende Timing der Durationsverlängerung nur schwer möglich, deshalb ist in den kommenden Monaten eine schrittweise Anhebung der Duration bei schwachen Bond-Märkten angebracht. Bei Unternehmensanleihen sind Investment Grade Bonds gegenwärtig attraktiver als High Yield Bonds, da vor allem letztere Konjunkturrisiken nur unzureichend eingepreist haben.

finanzwelt: Geldmarktfonds verzeichneten satte Zuflüsse. Wie nachhaltig ist dieser Trend? Was sollten Anleger dabei beachten?

Baitinger: Aktuell sind an den Geldmärkten auskömmliche Renditen, ohne jegliche Durationsrisiken, zu verdienen. Somit sind Geldmarktfonds zu einer veritablen Konkurrenz für andere Assetklassen geworden und haben dieses Jahr viel Liquidität angezogen. Solange die Leitzinsen und somit die kurzfristigen Marktzinsen so hoch bleiben, dürfte sich an diesem Trend nichts ändern. Folglich hätten sinkende Leitzinsen einen positiven Nebeneffekt: Die relative Attraktivität von Geldmarktfonds würde abnehmen und somit viel Liquidität in andere Assetklassen, vor allem Aktienmärkte, fließen.

finanzwelt: Zur Jahreswende 2023 – welche Risiken/Chancen sollten Investoren mehr denn je im Blick haben?

Baitinger: In Hinblick auf 2024 erwarten wir mit der höchsten relativen Konfidenz, dass sich das Marktzinsumfeld im Vergleich zu 2023 weniger restriktiv gestaltet. Lediglich im Falle einer ernsten zweiten Inflationswelle, was für uns nur ein Risikoszenario mit einer überschaubaren Wahrscheinlichkeit ist, wäre diese Erwartungshaltung falsch. Folglich ergeben sich 2024 Chancen bei Marktsegmenten, die dieses Jahr überproportional vom restriktiven Zinsumfeld belastet wurden. Hierzu zählt nicht nur das Small Caps Segment und langlaufende Staatsanleihen, sondern auch Emerging Markets Aktien und Anleihen. Das größte Risiko sehen wir aktuell auf der Konjunkturseite. Ökonomen erwarten für die US-Wirtschaft 2024 entweder ein „Soft Landing“ oder eine flache Rezession. Die Empirie zeigt allerdings, dass diese Erwartungshaltung nicht der Regel entspricht, sondern eine klare Ausnahme bildet. Echte (harte) Rezessionen, gerade nach einer brutalen monetären Bremsung, sind historisch viel häufiger anzutreffen. Finanzmärkte scheinen den Prognosen der Ökonomen nicht zu trauen, da viele zyklische Segmente eine harte Rezession zum Teil schon einpreisen. (ah)

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