Der Wissensvertreter des Versicherungsnehmers

15.09.2023

Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke. Foto: Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte

Im Rahmen des Versicherungsrechts stellt sich bei der Verletzung bestimmter Obliegenheiten oftmals die Frage, ob dem Versicherungsnehmer das Wissen Dritter als Wissensvertreter zugerechnet werden kann. Hatte der Versicherungsnehmer nämlich z.B. selbst keine positive Kenntnis von mitzuteilenden Umständen, so kann dennoch eine Obliegenheitsverletzung vorliegen, wenn ein Dritter diese Kenntnis hatte und diese dem Versicherungsnehmer zuzurechnen ist. Der vorliegende Artikel soll einen Überblick darüber geben, wann eine solche Wissenszurechnung erfolgen kann.

Was ist ein Wissensvertreter?

Wissensvertreter ist, wer damit betraut wurde, Tatsachen, deren Kenntnis hinsichtlich des Versicherungsvertrages rechtserheblich sind, anstelle des Versicherungsnehmers zur Kenntnis zu nehmen und gegebenenfalls die erlangten Kenntnisse intern zu verwalten (BGH VersR 1971, 538 (539)). Ergänzend umfasst der Begriff des Wissensvertreters denjenigen, den der Versicherungsnehmer dazu berufen hat, im Rechtsverkehr für ihn bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen, sowie die dafür anfallenden Informationen zur Kenntnis zu nehmen und ggf. weiterzuleiten (BGH VersR 2000, 1133, 1134).

Zuständigkeit für die Entgegennahme von Informationen

Im Gegensatz zum Repräsentanten des Versicherungsnehmers muss der Wissensvertreter nicht in einem Geschäftsbereich von gewisser Bedeutung eingesetzt sein. Auch das Erfordernis der Erfüllung von Aufgaben ist in einem weiteren Sinne zu verstehen.

Wenngleich an das Betrautsein keine hohen Anforderungen zu stellen sind, muss doch in irgendeiner Form der Wille des Versicherungsnehmers erkennbar werden, dass der Dritte für den Versicherungsnehmer Wahrnehmungen machen soll. Es kommt jedoch nur auf Tatsachen an, deren Kenntnis rechtserheblich ist. Es muss sich dabei nicht notwendigerweise um Informationen handeln, die typischerweise aktenmäßig festgehalten werden.

Bloß faktische Möglichkeiten der Wahrnehmung, etwa aufgrund größerer Sachnähe, machen Dritte jedoch noch nicht zum Wissensvertreter (OLG Hamm 23.11.1994 – 20 U 57/94, VersR 1995, 1437). Betraut bedeutet hierbei die bloße Übertragung der Aufgabe; eine rechtsgeschäftliche Vertretung ist nicht erforderlich.

Auch eine konkludente Betrauung ist möglich, beispielsweise indem dem Dritten ein Aufgabenbereich zugeteilt wird. Demnach ist eine ausdrückliche Bestellung zum Wissensvertreter nicht erforderlich (BGHZ 132, 30 (35 ff.)). Irrelevant ist ferner, ob der Dritte die maßgeblichen Informationen im konkreten Fall mit Wissen und Wollen des Versicherungsnehmers entgegengenommen hat.

Eigenverantwortlichkeit des Wissensvertreters

Nach der Rechtsprechung genügt es für die Stellung als Wissensvertreter nicht, wenn eine untergeordnete Hilfsperson aufgrund der ihr übertragenen Tätigkeit über einzelne Umstände aus rein tatsächlichen Gründen bessere Kenntnis hat als der Versicherungsnehmer (BGH VersR 1957, 386). In solchen Fällen könne bei einer „ganz untergeordneten Stellung“ nicht von einer konkludenten Betrauung ausgegangen werden. Vielmehr ist geboten, dass der Dritte bei der Entgegennahme und Verarbeitung der Informationen nicht nur mechanische Hilfsdienste zu leisten hat, sondern selbständig für die Weiterleitung oder aktenmäßige Perpetuierung der Informationen zuständig ist (BGH VersR 1970, 613 (614)).

Kenntniserlangung im Rahmen des übertragenen Aufgabenbereichs

Der Versicherungsnehmer muss sich nicht alle beliebigen Kenntnisse des Wissensvertreters zurechnen lassen. Vielmehr muss der Dritte die einschlägigen Informationen im Rahmen der ihm übertragenen Zuständigkeit erlangt haben. Damit sind Kenntnisse, die der Dritte außerhalb seines Ausgabenbereichs „privat“ erlangt hat, nicht zurechenbar.

Zurechnung der Kenntnis

Der Versicherungsnehmer muss sich die Kenntnis seines Wissensvertreters wie eigene Kenntnis zurechnen lassen. Insbesondere kann sich der Versicherungsnehmer nicht auf seine eigene Unkenntnis berufen.

Praxisfälle

In der Rechtsprechung sind bereits folgende Entscheidungen zum Wissensvertreter ergangen:

  • Angestellte: Der BGH (BGH VersR 1971, 538) entschied, dass die Angestellten, die vom verantwortlichen Leiter eines Unternehmens damit betraut worden sind, Tatsachen, deren Kenntnis von Rechtserheblichkeit ist, an Stelle des Leiters selbst zu Kenntnis zu nehmen, Wissensvertreter sind. Ein beim Versicherungsnehmer angestellter Fahrer eines Kfz ist indessen kein Wissensvertreter. Ihn trifft zwar die Verkehrspflicht, die Funktionstüchtigkeit des Kfz vor Fahrtantritt zu überprüfen; er ist aber in der Regel nicht vom Versicherungsnehmer damit betraut, sich an dessen Stelle bezüglich der versicherungsrechtlichen Obliegenheiten Kenntnisse zu verschaffen (OLG Hamm VersR 1981, 227 (228)).
  • Ein Sachverständiger (OLG Stuttgart VersR 1990, 76), der vom Versicherungsnehmer zur Erforschung und Feststellung der dem Versicherer mitzuteilenden Tatsachen gebeten wird, fungiert als Wissensvertreter mit der Folge, dass das von den tatsächlich übermittelten Auskünften abweichende Wissen dem Versicherungsnehmer zugerechnet wird.

Fazit

Ob das Wissen Dritter dem Versicherungsnehmer zugerechnet werden kann, hängt also von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Bei Streitigkeiten mit dem Versicherer kann es sich daher durchaus empfehlen einen im Versicherungsrecht spezialisierten Rechtsanwalt hinzuzuziehen.

Gastbeitrag von Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke, Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte.