Die „veränderte“ Welt verstehen
26.05.2013

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Die Wachstumsraten der Industrieländer verschlagen manchem die Sprache. Die Prognose für Deutschland beläuft sich auf ein mageres Plus von 0,6 % in diesem Jahr. Die Aussichten in den Schwellen- und Entwicklungsländern sind mit einem Anstieg des Bruttoinlandprodukts (BIP) 2013 in Höhe von 4,9 % deutlich besser. Schwellenländer sind und bleiben ein integraler Baustein in jeder Portfoliodiversifikation.
Während der industrialisierte Westen an wirtschaftlichem Einfluss verliert, steigen bevölkerungsreiche Länder wie China, Brasilien, Indien und Indonesien in ihrer weltweiten Bedeutung auf. Dahinter stehen schon die nächsten wachstumsstarken Kandidaten wie Mexiko, die Türkei oder Thailand in den Startlöchern. Der Kuchen wird neu aufgeteilt, die Schwellenländer haben mehr Appetit und bekommen größere Stücke und damit mehr Einfluss, auch in internationalen Gremien. BRIC, Next Eleven , Mist oder Smit – immer neue Abkürzungen für neue Gruppen aufstrebender Emerging Markets werden kreiert und sollen die Investoren locken. Der erhoffte Effekt bleibt bis dato aus. Knapp 10 Mrd. Euro haben die Deutschen in Schwellenländerfonds investiert. Das sind gerade mal bescheidene 4 % des in Aktienfonds allokierten Geldes. Großinvestoren sind mutiger und stellen sich schon auf diesen Paradigmenwechsel ein. Ein Grund mehr, Aufklärungsarbeit zu leisten und nach dem langfristigen Potenzial von Schwellenländerinvestments zu fragen. Entkoppeln sich die Kapitalmärkte der Schwellenländer von den Geschehnissen in den Industrienationen? So lautet in diesem Kontext eine der zentralen Fragen.
finanzwelt befragte drei Experten der Branche:
- Katrin Ehling, Analystin bei X-Trade Brokers
- Chris-Oliver Schickentanz, Chief Investment Officer Commerzbank AG
- Christian Schiweck, GS&P Kapitalanlagesellschaft S.A.
finanzwelt: In Europa hält uns die Schuldenkrise weiterhin in Bann, die neuesten Zahlen aus den USA belegen zwar eindeutig den erwarteten Aufwärtstrend, bleiben aber hinter den Erwartungen vieler Analysten zurück. Die Emerging Markets (Schwellenländer) sollen es –wieder einmal – richten. Wie schaut Ihr Plädoyer für diese Anlageklassen (Aktien und Anleihen) derzeit aus?
Schickentanz: Nachunserer Meinung geben die strukturellen Vorteile der Schwellenländer nach wie vor den Ausschlag für entsprechende Investments. Ein Faktor, der zur Attraktivität beiträgt, ist der relativ geringe Verschuldungsgrad vieler öffentlicher Haushalte in diesen Ländern. Ein weiteres Argument ist die weltweite Politik des billigen Geldes – Liquidität sucht attraktive Anlageklassen und findet diese in den Emerging Markets. Insbesondere das Segment der Schwellenländeranleihen wird immer beliebter.
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Ehling:** Es gibt eine Vielzahl von Argumenten, die auch die künftige Entwicklung der Schwellenländer vielversprechender scheinen lassen. In diesen Ländern wächst eine Mittelschicht heran, die nach Wohlstand strebt. Derartige Faktoren können das wirtschaftliche Wachstum weiterhin vorantreiben.
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Schiweck:** Diversifikation ist in unsicheren Zeiten mehr denn je zuvor das Gebot der Stunde. Investoren, die ihr Portfolio entsprechend breit streuen möchten, kommen an Schwellenländern nicht vorbei. Neben Schwellenländerbonds, die in Hartwährungen (Dollar) notiert sind, sind zunehmend auch Lokalwährungsprodukte interessant und als Portfoliobestandteil fast schon unverzichtbar. Eine stetige Aufwertung und höhere Zinsen dürften künftig dafür sorgen, dass Anleiheinvestments in Schwellenländerwährungen gute Erträge abwerfen könnten. In Lateinamerika sticht unter anderem der mexikanische Peso hervor, weil Mexiko überzeugende inländische Fundamentaldaten vorweisen kann, Kapital ins Land fließt und als Nachbar der USA von der dortigen leichten ökonomischen Erholung profitiert.
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Ehling:** Allerdings stellen wir bei unseren Kunden oftmals eine noch abwartende Haltung gegenüber Währungsinvestments fest. Der sogenannte „home bias" verhindert eine rein rationale Entscheidung bei den Investoren.
finanzwelt: Viele Blicke richten sich in diesem Jahr wiederum nach Asien, dem „neuen" Gravitationszentrum. Insbesondere China soll der Weltwirtschaft wieder positive Impulse geben, und die Hoffnung vieler Experten und Investoren ruht auf Peking. Stottert die asiatische Wachstumslokomotive?
Schickentanz: Chinas Wirtschaft hat mit 7,7 % Wachstum im ersten Quartal 2013 eine durchaus solide Leistung abgeliefert. Wir tun gut daran uns zu verdeutlichen, was ein Wirtschaftswachstum in dieser Größenordnung bedeutet. Natürlich wächst die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt etwas langsamer, was aber nicht zwingend negativ ist. Wichtig ist, dass es der Regierung gelungen sei, die Teuerungsrate auf um die 3 % zu drücken und damit zugleich der Notenbank den Spielraum gibt, unterstützende Maßnahmen einzuleiten. Hinzu kommt, dass sich die Chinesen gerade inmitten eines Transformationsprozesses befinden, der die Stärkung der Binnenwirtschaft vorsieht und trotz dieser Neuausrichtung mit sattem Wachstum überzeugen kann.
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Ehling:** Prinzipiell sind auch wir optimistisch, was den asiatischen Kontinent und speziell die Zukunftsperspektiven Chinas betrifft. Allerdings hegen wir gewisse Zweifel, ob die unter dem Schlagwort der Urbanisierung vorgenommenen Maßnahmen (in Zukunft sollen 80 % der Bürger in Städten wohnen) wirklich plangemäß aufgehen oder ob die schon jetzt sehr gestiegenen Immobilienpreise letztlich in einer Blase münden könnten.
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Schiweck:** China hat natürlich auch wegen der Krise in der Eurozone und der schleppenden Erholung in den USA mit Problemen zu kämpfen. Aber die grundlegenden Indikatoren stimmen uns weiterhin positiv – eine Überhitzung ist nicht in Sicht, die Nachfragesituation bleibt intakt und das Wirtschaftswachstum ist deutlich stärker als in vielen anderen Teilen der Welt.
finanzwelt: Wie facettenreich und Erfolg versprechend sind die Emerging Markets? Zumindest die Börsen hinken ja doch seit Monaten jenen der westlichen Industrienationen hinterher.
Schickentanz: Emerging Markets sind deutlich facettenreicher als nur der konzentrierte Blick auf China. Sowohl in Indien als auch in Brasilien sehen wir momentan klare Anstrengungen seitens der Regierenden, den eingeschlagenen Wachstumspfad weiterzugehen und gleichzeitig die Inflation unter Kontrolle zu behalten. Das stimmt uns optimistisch. Interessanter sind Aktienfonds, die ihr Schwellenländeruniversum nicht beschränken und die vermeintlich kleineren Länder in den Fokus rücken. Auch in Osteuropa ergeben sich interessante Investmentoptionen. Polen, die größte Volkswirtschaft der jungen EU-Mitglieder, hat in den vergangenen Jahren einen Wachstumsboom erlebt.
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Schiweck:** Man kann an den Aktienmärkten diverser Länder überaus attraktive Bewertungskennzahlen finden. Momentan wird sehr viel von Mexiko gesprochen, das sich in der Gunst der Investoren zum Liebling in Mittelamerika gemausert haben. Nicht ohne Grund – Direktinvestitionen strömen in Milliardenhöhe ins Land, auch von chinesischen Konzernen. Viele Marktteilnehmer sagen Mexiko eine blühende Zukunft voraus. Südkorea ist ein weiteres Beispiel. Dort ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Quartal 2013 gestiegen. Das BIP erhöhte sich um 0,9 % im Vergleich zum Vorquartal und das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) ist attraktiv.
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Ehling:** Die kleineren ASEAN-Länder (insbesondere Malaysia, Thailand und Indonesien) haben noch deutliches Nachholpotenzial, da sie in ihrer Entwicklung noch zurückliegen. Malaysia ist gemäß des Open Market Index nach Hongkong und Singapur die offenste Ökonomie Südostasiens. Lohnsteigerungen bewegen sich im moderaten Niveau, die Menschen vor Ort sind bestens ausgebildet. Das Land ist ein großer Kautschukproduzent und profitiert von seinen Rohstoffvorkommen. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist Malaysia der größte Nettoexporteur von Bodenschätzen in dieser Region. Aber auch und vielleicht gerade die Staaten Lateinamerikas bieten unter dem Gesichtspunkt der geringen Verschuldung eine gute Investitionsmöglichkeit.
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Schiweck:** Die wichtigste Stütze ist und bleibt sicherlich der sich vergrößernde Wachstumsvorsprung in einem Umfeld allgemein bescheidenen Wachstums. Allerdings sollte dann beim näheren Hinschauen der einzelnen Märkte/Länder auch vermehrt auf die Liquidität der dortigen Landeswährungen geachtet werden.
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Schickentanz:** Zunächst müssen wir die Anleger natürlich auch von der Sinn- und Chancenhaftigkeit entsprechender Investments überzeugen. Viele Investoren stehen auch jetzt, wo der Deutsche Aktienindex (DAX) ein neues Allzeithoch erklommen hat, abwartend an der Seitenlinie und scheuen Risiken. Daneben gibt es natürlich diejenigen, die offen sind und gezielt nach Investitionslösungen mit Schwerpunkt Emerging Markets fragen. Eine überzeugende Länderstory – wir haben das 2011 bei einem Thailand-Fonds gesehen – trifft auch auf Nachfrage.
finanzwelt: Die Finanzindustrie und speziell auch die Berater müssen ihrer Kundschaft die Vorzüge der Emerging Markets erklären können.
Schiweck: Ein vergleichsweise niedriger Prozentsatz des in Aktienfonds investierten Fondsvermögens steckt in Emerging Markets. Obwohl die Wachstumschancen bekannt sein dürften, bergen die Märkte für viele Anleger noch große Fragezeichen. Daran müssen wir arbeiten. Viele Kunden unterschätzen Risiken der Industrieländer – hier lohnt ein direkter Vergleich zwischen entwickelter und „neuer" Welt.
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Schickentanz:** Es gilt, die Argumente hervorzuheben, die auf harten wirtschaftlichen Daten beruhen und dies flankierend mit Grafiken und umfangreichem Material zum Thema Emerging Markets zu untermauern. Zudem sollte die Bedeutung dieser Länder/Regionen als Absatzmärkte für deutsche Konzerne deutlicher hervorgehoben werden.
finanzwelt: Die Ampeln stehen demnach auf „grün", was die Emerging Markets betrifft?
Schickentanz: Natürlich sollten sich Investoren idealerweise die einzelnen Länder genauer anschauen. Generell sprechen die strukturellen Vorteile für entsprechende Schwellenländerinvestments, wobei das Anleihensegment stärker in den Vordergrund drängt. Emerging Market Corporates sind derzeit eine gefragte und attraktive Alternative. Die hohen Zuflüsse ermöglichen den Unternehmen, sich an den Kapitalmärkten zu finanzieren.
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Schiweck:** Wer ausschließlich in Europa beziehungsweise den Industrieländern investiert ist, allokiert nicht mehr zeitgemäß. Die großen Trends (Demografie, Infrastruktur etc.) sprechen eine eindeutige Sprache – zugunsten der Schwellenländer.
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Ehling:** Noch fristen die Währungen der Emerging Markets ein gewisses Nischendasein. Dabei weisen diese Währungen die höchsten Aufwertungspotenziale auf. Wir sind aber optimistisch, dass sich dies peu à peu ändern wird.
Fazit
Neben Aktienfonds setzen Investoren verstärkt auch auf Schwellenländer-Anleihen, teils in lokaler Währung. Hier locken meist üppigere Renditen. Das Interesse an Geldanlagen in Schwellenländer ist gestiegen, gleichwohl fehlt manchmal der Mut, gemäß der eigenen Risikostrategie entsprechend zu investieren. Damit verzichtet man auf eine breite Streuung im Portfolio und auf Rendite. Berater sollten aber bei der Vermittlung solcher Produkte auf der Hut sein und den Kunden darüber informieren, dass er auch mit Rückschlägen rechnen muss.
(Das Gespräch führte Alexander Heftrich)

Deutschland-Ergebnisse - Fidelity European Investor Sentiment Survey
