Eigene Vorsorge ist nötig!

22.02.2022

Micha Hildebrandt & Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer

Der Pflegenotstand verschlimmert sich. Es mangelt an Personal, die Kosten für Betroffene steigen, Angehörige kommen an ihre Belastungsgrenze und die zahlreichen gesetzlichen Reformen wirken wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Ein selbstbestimmtes Leben im Alter in den eigenen vier Wänden ist der Wunsch vieler Menschen. Dies ist keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern bedarf aktiver Planung und Vorsorge. Um auf die Situation in der Pflege aufmerksam zu machen, haben sich Prof. Dr. Grönemeyer und die vigo Krankenversicherung VVaG zusammengeschlossen.

Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer wuchs in Bochum mit seinen Brüdern Herbert und Wilhelm auf und ist in der sechsten Generation Arzt. Er steht für den Humanismus in der Medizin und machte sich u. a. als Bestsellerautor („Mein großes Rückenbuch“, „Der kleine Medicus“, „Weltmedizin“ u. v. m.) einen Namen. Micha Hildebrandt ist Vorstand bei der vigo. Das Unternehmen aus Düsseldorf gilt als Erfinder des flexiblen Pflegetagegeldes. Hildebrandt absolvierte seinen Zivildienst in der ambulanten Pflege und schenkt diesem Thema seither besondere Aufmerksamkeit.

finanzwelt: Prof. Dr. Grönemeyer, wie bewerten Sie die aktuelle Lage in der Pflege?

Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer» Kritisch. Der Mensch sollte im Mittelpunkt stehen. In den Disziplinen der Medizin und der Pflege ist dies jedoch nicht oder nicht mehr der Fall. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass oberflächliche Abfertigung zum Standard wird. Erstrebenswert ist ein System, in welchem die Bedürfnisse eines jeden Einzelnen erfasst werden und Behandlung sowie Pflege in individueller Form erfolgt. Früher war die Pflege älterer Angehöriger klassische Auf -gabe der Angehörigen, meist der Frauen, und oft lebten mehrere Generationen gemeinsam in einem Haus. So ähnlich lief das auch in unserer Familie. Dieses an sich schöne Miteinander findet sich heutzutage in der Gesellschaft kaum noch und ist häufig in der globalisierten, sich immer schneller drehenden Welt auch nicht mehr realistisch umsetzbar. Diese Distanz fordert Familien organisatorisch und finanziell in extremer Weise. Ich appelliere an die Aufrechterhaltung der Herzlichkeit. Das geht bei Pflege nach Minuten leider mehr und mehr verloren.

finanzwelt: Welche Folgen wird die Alterung der Gesellschaft in Bezug auf Pflege haben?

Micha Hildebrandt» Die Zahl der Pflegebedürftigen wird explodieren. Die Alterspyramide in Deutschland wird förmlich auf den Kopf gestellt. In 20 Jahren werden hierzulande fast so viele 80-Jährige wie 50-Jährige leben. Es werden dann bis zu sieben Millionen Menschen zu pflegen sein. Da die Pflegepflichtversicherung von Anfang an im Umlageverfahren umgesetzt wurde, bietet sie keine Generationengerechtigkeit. Die Sozialsysteme sind jetzt schon unterfinanziert und der Trend setzt sich fort. Die Erkenntnis, dass ein weiteres Nachschießen von Steuermitteln nicht grenzenlos möglich bzw. sinnvoll ist, wird immer deutlicher werden.

Prof. Grönemeyer» Die Frage, die sich mir zudem stellt, ist die Realisierung menschenwürdiger Pflege. Was generell fehlt, ist die gesamtgesellschaftliche Wertschätzung der Pflegeberufe und begeisterte Unterstützung dieser Berufsstände. Im Jahr 2035 könnten fast 500.000 Pflegekräfte fehlen, um eine angemessene Versorgung sicherstellen zu können. Die statistischen Voraussagen liegen alle auf dem Tisch. Es muss endlich ein Umdenken stattfinden, um Personal zu gewinnen, auszubilden und zu halten. Dazu bedarf es dann aber auch besserer Arbeitsbedingungen und deutlich erhöhter Löhne. Die Pflegekräfte arbeiten am Limit oder darüber hinaus.

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