Ein biometrisches Risiko

19.02.2020

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Seltsam weltfremd

Der normale Betrachter würde hier von Altersarmut sprechen, nicht so jedoch Sozialminister Hubertus Heil, Schöpfer des Wortes Respektente: Es gehe hierbei nicht vorrangig um Altersarmut, sondern um „Anerkennung einer Lebensleistung“. Vielleicht hätte ihm ein Blick in eine Studie der Bertelsmann Stiftung und des DIW in Berlin vom vergangenen Herbst thematisch auf die Sprünge helfen können. Die Angleichung von Renten in Ost und West, eine Untergrenze für das Rentenniveau oder die sogenannte Mütterrente – an Reformen für den Ruhestand habe es in den vergangenen Jahren nicht gemangelt, so die Analysten. Trotzdem steige das Risiko der Altersarmut weiter. In zwanzig Jahren könnte mehr als jeder fünfte Rentner (21,6 %) von Altersarmut betroffen sein könnte. Mit Blick auf die aktuell diskutierten Konzepte einer Grundrente zeige sich, dass sowohl die Pläne aus dem Koalitionsvertrag wie auch das Modell von Arbeitsminister Heil nicht ausreichend zielgenau sind. Christof Schiller, Arbeitsmarktexperte der Stiftung: „Selbst bei einer positiven Arbeitsmarktentwicklung müssen wir mit einem deutlichen Anstieg der Altersarmut in den kommenden zwanzig Jahren rechnen.“ So würde laut den Analysten die Grundsicherungsquote, die den Anteil der Rentner angibt, die zusätzlich auf staatliche Unterstützung zur Existenzsicherung angewiesen sind, in den kommenden zwanzig Jahren von aktuell 9 % auf knapp 12 % steigen. Auch die Armutsgefährdung im Alter würde im selben Zeitraum von aktuell 16,8 auf 21,6 % klettern. Als armutsgefährdet gelten laut Studie Personen, deren monatliches Nettoeinkommen unter Berücksichtigung des Haushaltszusammenhangs unter 905 Euro liegt. Die Variante der Grundrente aus dem Koalitionsvertrag, die für Grundsicherungsempfänger mit 35 Versicherungsjahren eine Erhöhung des Grundsicherungsbedarfs um 10 % vorsehe, könne den Anstieg der Altersarmut kaum bremsen. Laut Studie würde die Reform das Armutsrisiko bis 2039 nur um 0,4 Prozentpunkte auf dann 21,2 % reduzieren. Es stellt sich aber die Frage, ob es reicht – wie es die Verbände in ihrem Memorandum getan haben, nur auf die geförderte Altersvorsorge abzustellen. Martin Gräfer, Vorstand bei den Bayerischen Versicherungen, sagt hierzu: „Weitere Produkte würden zum einen die Produktlandschaft unnötig komplexer gestalten, zum anderen die Verbraucher nur weiter verunsichern. Effektiver und damit sinnvoller ist es, das Erfolgsmodell Riester-Rente weiterzuentwickeln, bürokratische Hürden zu reduzieren und damit auch Kosten zu senken.“ Ralf Berndt, Vorstand Vertrieb und Marketing der Stuttgarter Lebensversicherung a. G., sieht das anders: „Angesichts der Tatsache, dass sich rund 70 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereits mit Riesterverträgen oder einer betrieblichen Altersversorgung absichern und auf die Nachhaltigkeit dieser Altersvorsorgesysteme vertrauen, ist eine tiefgreifende Reform unerlässlich.“ Man stehe vor der großen gesellschaftlichen Herausforderung, zukünftige Generationen vor den Gefahren einer drohenden Altersarmut zu schützen. Die Reform der Riesterrente könne nur ein weiterer Schritt auf diesem Weg sein. Darüber hinaus seien noch mehr Anstrengungen notwendig, um die private und betriebliche Altersvorsorge zu stärken. Die Kunden müssten davon überzeugt werden, stärker mit Hilfe von chancenreicheren Produkten ihre Altersvorsorge aufzubauen. Aber auch ein klares Bekenntnis der Politik zur bAV sei wichtig. Weniger Formalismus und Bürokratie, z. B. durch die Vereinfachung der Zuschussregelungen bei der Entgeltumwandlung, aber auch durch einen Abschied von der hundertprozentigen Beitragsgarantie bei Riester und in der bAV, könnten den Verbreitungsgrad der privaten und betrieblichen Altersvorsorge erhöhen.

Das muss in die Köpfe

Offenbar reichen aber die besten Vorsorgemaßnahmen nicht aus, wenn sich in den Köpfen der Bundesbürger nicht festsetzt, dass es zwar schön ist, möglichst lange zu leben. Dass aber Langlebigkeit auch ein biometrisches Risiko ist – denn irgendwie muss sie ja auch finanziert werden. So sagt Gräfer über die angebotenen Vorsorgemöglichkeiten: „Bei vielen von ihnen ist Langlebigkeit primär abgesichert. Das Angebot wäre also da. Leider scheint das Langlebigkeitsrisiko aber nach wie vor nicht ausreichend in den Köpfen der Menschen verankert zu sein.“ Viele Kunden wählten beispielsweise nach dem Ablauf der Ansparzeit die Kapitalabfindung, da sie es sich schlichtweg nicht vorstellen könnten, dass sie unter Umständen noch 30 Jahre vor sich hätten. Berndt sieht es nicht anders: „Ich betone immer wieder, dass die privaten und betrieblichen Altersvorsorgelösungen der Lebensversicherer dafür da sind, das Risiko der Langlebigkeit abzusichern. Es sollte nicht darum gehen, eine möglichst hohe Rendite zu erwirtschaften.“ Im Kern gehe es doch darum, das Risiko abzusichern, länger zu leben als das Geld reiche. (hdm)