Erwartungen und Realitäten

07.02.2024

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Neujahrsvorsätze

Neues Jahr, neue Energie, neuer Optimismus – viele von uns haben ehrgeizige Neujahrsvorsätze. Sie wollen etwas für sich tun: gesünder essen, mehr Sport treiben, weniger Geld ausgeben. Vor über 3.000 Jahren schrieb der griechische Dichter Archilochos: „Wir steigen nicht auf das Niveau unserer Erwartungen, sondern fallen auf das Niveau unserer Anstrengungen.“ Ich fand diesen Satz immer sehr klug und plausibel. Wenn aus Verhaltensänderungen keine Gewohnheiten werden, sind die guten Vorsätze schnell vergessen, und wir fallen in alte Muster zurück.

Ich darf das sagen, denn an meinem ersten Neujahrsvorsatz bin ich schon gescheitert. Hoffen wir, dass ich mit den beiden anderen mehr Erfolg habe. Anlegererwartungen für 2024 Auch an den Finanzmärkten ist man zurzeit sehr optimistisch. Wenn die Bewertungen fair sind und die Analysten recht behalten, werden Margen und Gewinne der S&P-500-Unternehmen dieses Jahr im Schnitt um gut 10% steigen. Das wäre auch in anderen Zeiten sehr viel. Auf jeden Fall dürfte keine Rezession kommen, und die Umsätze müssten 2024 wesentlich stärker steigen als im Durchschnitt der Jahre seit 2008. Wenn es tatsächlich dazu kommt, müssen wir uns bewusst machen, dass Umsatzwachstum durch mehr Absatz und steigende Preise entsteht. Der Absatz hängt letztlich vom Wirtschaftswachstum ab, die Preise von der Zahlungsbereitschaft der Verbraucher. Sie bestimmt auch die Inflation, die Notenbanken und Marktteilnehmer so gebannt verfolgen. Aktien- und Credit-Investoren rechnen also mit Wachstum und anhaltend hohen Güter- und Dienstleistungspreisen. Anleiheninvestoren erwarten hingegen nur etwa 2% Inflation und fallende Leitzinsen. Diese Erwartungen sind nicht nur optimistisch, sondern vielleicht auch widersprüchlich. Volatilität entsteht, wenn der Markt auf falsche Erwartungen reagiert In einem meiner Lieblingsromane, dem Klassiker Große Erwartungen von Charles Dickens, hofft der Waisenjunge Pip auf Wohlstand und Reichtum durch Bildung. Aber alles kommt anders, die meisten Hoffnungen erweisen sich als trügerisch. Am Ende geht es zwar gut aus, doch der Weg dahin ist alles andere als gradlinig, mit vielen unerwarteten Wendungen. Aber so ist das Leben: Unerwartete Entwicklungen sind die Regel, erwartete die Ausnahme. Assetpreise sind etwas sehr Einfaches, und sie haben eines gemein: Sie bilden die aggregierten Anlegererwartungen der künftigen Cashflows ab. Sie sind aber auch komplex, denn niemand kennt die Zukunft, und Vorhersagen sind schwierig. Das führt zu Volatilität, wenn Investoren mit neuen Informationen konfrontiert werden und sich ihre früheren Annahmen als falsch erweisen. Können Unternehmensgewinne wirklich wie erwartet zweistellig steigen, wenn Güter und Dienstleistungen billiger werden und die Inflation auf die Notenbankziele fällt? Und werden die Notenbanken ihre Leitzinsziele aufgeben, wenn Arbeitskräfte knapp bleiben und die Wirtschaft doch nicht in die Rezession fällt? Vielleicht. Wenn nicht, werden sich die Wertpapierkurse an die neuen Annahmen und Erwartungen anpassen. Fazit Wie so viele andere habe auch ich mir zu Jahresbeginn vorgenommen, mich zu bessern und etwas für die Menschen in meinem Umfeld zu tun. Da ich weiß, dass Ernsthaftigkeit viel mit Messbarkeit zu tun hat, habe ich mir eine Smartwatch gekauft. Sie soll mir helfen, meine beiden anderen Vorsätze wirklich umzusetzen. Erst die Zeit wird zeigen ob – in den Worten von Archilochos – meine Anstrengungen zu meinen Erwartungen passen. Viel wichtiger ist, ob Wirtschafts- und Gewinnwachstum zu den derzeitigen Anlegererwartungen passen. Wenn nicht, werden die Wertpapierkurse irgendwann korrigiert. Es ist wie bei vielen Neujahrsvorsätzen: Die Realität spricht für Letzteres. Umso wichtiger ist kluges aktives Assetmanagement.

Autor: Robert M. Almeida, Jr., Global Investment Strategist ud Portfoliomanager bei MFS Investment Management