Ist Künstliche Intelligenz der bessere Fondsmanager?

28.06.2023

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Die Suche nach Überrenditen ist wahrscheinlich so alt wie die Kapitalmärkte selbst. Ständig machen Wissenschaftler und Investoren neue vermeintliche Alpha-Quellen aus. Aber: Dieser Weg führe fast nie zum Ziel, sondern berge ganz neue Risiken für Anleger, warnt Christian Schmitt, Senior Portfolio Manager bei ETHENEA Independent Investors. 

Künstliche Intelligenz (KI) und konkret der Chatbot ChatGPT sorgen immer wieder für Schlagzeilen. Eine davon: Kann ChatGPT Aktienkursbewegungen vorhersagen? „Die kurze Antwort lautet: Ja. Zumindest auf Sicht eines Tages. Das zeigen wisschenschaftliche Studien, erläutert Senior Portfolio Manager Schmitt. Daraus ergibt sich für einige Anleger direkt die nächste Frage: Ist KI dann nicht der bessere Fondsmanager als der Mensch? Schmitts Antwort: „Ganz so einfach ist es nicht – denn das ständige Abwägen von möglichen Chancen gegenüber potenziellen Risiken ist der Kern unserer Aufgabe als aktiver Asset Manager. Und eben diese Betrachtung wird umso komplexer aufgrund sich ständig verschiebender – und sogar durch die Alphasuche neu entstehender – Risiken.“ 

Fakt 1: Vermeintliche Alphaquellen versiegen umso schneller, je attraktiver sie anfänglich sind und je einfacher sie als Strategie umzusetzen sind.

Die unermüdliche Suche nach Überrenditen, den sogenannten Alpha-Erträgen, die über die mit dem Marktrisiko (Beta) zu erwartenden Erträge hinausgehen, ist ein Dauerthema, das die Finanzmarktteilnehmer seit Jahrzehnten umtreibt. „Bis zum Jahr 2019 wurden sage und schreibe mehr als 400 wissenschaftlich belegte Faktoren für Überrenditen in Fachzeitschriften³ dokumentiert. Aber welchen Nutzen können Anleger aus diesen Alphaquellen ziehen?“, fragt sich Schmitt. „Alpha war schon immer ein sehr zartes Pflänzchen und ist sehr vergänglich. Das wird immer so bleiben.“ Daran würden auch Neuentdeckungen vermeintlicher Alphaquellen nichts ändern, die unter anderem durch die verbesserten technischen Möglichkeiten zuletzt exponentiell zugenommen haben. „Auch hierzu existieren bereits Studien, die eine stark abfallende Wirkung solcher Alpha-Charakteristika nach dem Zeitpunkt der Veröffentlichung belegen4. Die Konklusion: Eine einmal gefundene Outperformance geht umso schneller zurück, je attraktiver sie zum Zeitpunkt der Entdeckung war und je einfacher eine entsprechende Strategie in der Praxis umzusetzen ist. Kurzum: Mit der Suche nach immer neuen Alpha-Quellen wird ein Wettlauf angeheizt, der mit ebendiesen Mitteln kaum zu gewinnen ist“, argumentiert der ETHENEA-Portfolio-Manager.

Fakt 2: Das Herdenverhalten von Anlegern stellt nicht nur auf Gesamtmarktebene, sondern auch auf Einzeltitelebene ein nicht zu unterschätzendes Risiko dar. 

„Wenig überraschend: Wenn die gleichen Daten durch die gleiche Brille betrachtet werden, sind auch die Erkenntnisse die gleichen. Die Folge: Viele Anleger haben also schlicht die gleichen Titel im Portfolio, wenn neue Alphafaktoren ausgemacht werden. Die Vergangenheit zeigt: Sobald nun Anleger in nennenswertem Umfang verkaufen müssen, geraten die Aktien unter Druck und eine Kettenbewegung setzt ein, gerade wenn quantitative Modelle mit im Spiel sind“, beschreibt Schmitt. Ein solches Herdenverhalten resultiert oftmals in Kursstürzen. „Das sind schmerzhafte, aber wichtige und lehrreiche Ereignisse. Viele Anleger haben beispielsweise noch die Kettenreaktion in Erinnerung, die unter der Bezeichnung Quant Crash 2007 in die Kapitalmarktgeschichte einging.“ Damals hatten viele Marktteilnehmer mit neuen technischen Mitteln und Daten die Märkte im Backtesting daraufhin analysiert, mit welchen Aktien sich im Rückspiegel möglichst einfach und stringent Überrenditen erzielen ließen.

Prognose: Auch KI wird Crowded Trades generieren. 

„Diese Grundthematik hat sich seitdem unzählige Male in ähnlicher Form am Markt wiederholt. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird sich das auch in den nächsten Jahren bei Anlageprodukten mit dem Etikett ‚künstliche Intelligenz‘ wiederholen“, prognostiziert Schmitt. „Interessanterweise korreliert das Risiko des Herdenverhaltens nicht mit klassischen Risikofaktoren wie Verschuldung, Bewertung, Zyklizität, Beta und anderen. Daher ist es ungleich schwieriger, sich vor diesen als „Crowded Trades“ bezeichneten Positionen zu schützen.“ 

Während eine Diversifizierung des Portfolios grundsätzlich schütze, liege die potenzielle Gefahr hier eher in der Anlagestrategie selbst. „Erhöhte Vorsicht ist daher bei besonders beliebten Anlagestrategien sowie bei neuen, innovativen Ansätzen geboten, die aufgrund frischer Backtests, neu entdeckter Alpha-Faktoren oder neuer technischer Möglichkeiten eine überdurchschnittliche Rendite versprechen und entsprechend viele Anlegergelder anziehen“, rät der Senior Portfolio Manager.

Meldungen wie „ChatGPT kann Aktienkursbewegungen vorhersagen“ hält Schmitt für durchaus interessant, er verfällt aber weder in Panik noch in Euphorie: „Neue Werkzeuge wie ChatGPT werden die Arbeit aller Marktteilnehmer und Anleger nachhaltig verändern, so wie es zuvor Taschenrechner, Computer und das Internet getan haben.“ Es gehe darum, zu verstehen, wie dies geschehe und welche potenziellen Implikationen diese Entwicklung mit sich bringe, um fortlaufend Chancen und Risiken einschätzen zu können. Zumindest die Verstärkung eines bereits bestehenden Trends in der Finanzindustrie kristallisiere sich bereits aus der ersten Finanzstudie zu ChatGPT heraus: Die Fokussierung auf immer kürzere Handelsintervalle, bei denen Investitionen auf Tagessicht, die auf Schlagzeilen basieren, kein Kopfschütteln mehr hervorrufen. „Somit liegt der Wert des aktiven Managements heute auch darin, den Artikel hinter der Schlagzeile zu lesen“, so Schmitt.