Über Disinflation und Hoffnungsschimmer

16.04.2024

Sophia Wurm, Vice President bei SPDR ETF, der ETF-Marke von State Street Global Advisors / Foto: © State Street Global Advisors

Die Geldpolitik ist ein heißes Eisen: Disinflation und Hoffnungsschimmer treffen aufeinander, Europäische Verbraucher genießen alles mit einer zuvor noch nie dagewesenen Vorsicht. Welche Lektionen das Jahr 2023 uns gelehrt hat und welche Erwartungen wir an 2024 richten können, darüber spricht Sophia Wurm, Vice President bei SPDR ETF, der ETF-Marke von State Street Global Advisors, mit finanzwelt.

finanzwelt: Frau Wurm, das neue Jahr ist angebrochen. Welche Lektionen nehmen wir von 2023 mit?

Sophia Wurm» Nach einem turbulenten Jahr 2023 schau en wir 2024 optimistisch nach vorne. Eine weniger restriktive Geldpolitik für wichtige Industriestaaten wie die USA und auch Europa in Kombination mit einem erwarteten „Soft Landing“ sind hier die wichtigsten Argumente. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Inflation auf beiden Seiten des Atlantiks zwar abnimmt – allerdings langsamer als erwartet. Die Notenbankpolitik wird vor diesem Hintergrund weiterhin sehr datenabhängig bleiben. Positiv ist zu vermerken, dass sich die US-Konjunktur mit einem starken Binnenkonsum bisher stabiler als befürchtet erweist und eine US-Rezession damit weniger wahrscheinlich wird. Wir haben unsere Wachstumsprognose für die USA in diesem Jahr zuletzt erneut angehoben auf 1,4 %.

finanzwelt: Das Vertrauen der europäischen Verbraucher ist erschüttert durch die Inflation, die Menschen sind vorsichtiger. Müssen sie „motiviert“ werden oder heißt es: aussitzen?

Wurm» Auch in der Eurozone hat sich die Inflation in den vergangenen Monaten deutlich verlangsamt, so dass die realen verfügbaren Einkommen steigen. Gleichzeitig zeigt sich der Arbeitsmarkt sehr robust. Darüber hinaus sprechen hohe Ersparnisse dafür, dass die europäischen Konsumenten zwar einerseits über genügend Vermögen verfügen, aber auf der anderen Seite verunsichert sind, dieses auch auszugeben. Wir gehen davon aus, dass sich die Situation mit weiter fallenden Inflationsraten normalisieren wird. Unsere Wachstumsprognose für die Eurozone wurde zuletzt auf 0,9 % reduziert, impliziert für die Währungsunion aber keine formale Rezession, so dass wir in unserem Kernszenario aktuell mit Zinssenkungen von 100 Basispunkten arbeiten.

finanzwelt: Auf der anderen Seite steht die Disinflation der letzten Monate mit steigenden Einkommen und einer niedrigen Arbeitslosenquote – warum dann noch das Zögern?

Wurm» Im Moment erscheint die Stimmung in der Eurozone schlechter als die tatsächliche Lage gemessen am Aktienmarkt. So ist zum Beispiel der Euro Stoxx 50 seit dem Jahresbeginn bereits um 8 % gestiegen (Stand: 28. Februar 2024) und hat damit viele andere Aktienindizes wie den S&P 500 oder auch den Nasdaq hinter sich gelassen. Ähnlich wie auch in anderen Märkten wurde diese Kursrallye allerdings nur von wenigen Aktien getrieben, so dass keine ansprechende Marktbreite vorliegt. Allerdings zeigt dies eindrucksvoll, dass es durchaus relevant ist, wo die Unternehmen ihre Umsätze erzielen (also zum Beispiel auch außerhalb der Eurozone in stärker wachsenden Regionen) und nicht unbedingt, wo der Unternehmenssitz liegt. Die Belastungssituation in Europa besteht aus der eigenen Wachstumsschwäche und zum Teil hohen Abhängigkeiten von anderen wachstumsschwachen Regionen wie China sowie den bestehenden geopolitischen Risiken. Dies lässt Investoren (aktuell) noch zögern.

finanzwelt: Was ist nötig, damit wieder etwas (positive) Bewegung in den Markt kommt?

Wurm» Relevant ist allem voran, dass die Inflationszahlen weiter sinken und die Notenbanken mehr Handlungsspielraum bekommen. Je näher die Inflation dem Ziel der EZB kommt und die Kapitalmarktzinsen nicht mehr weiter steigen oder sogar anfangen zu fallen, desto eher wird sich für europäische Unternehmen die Refinanzierung erleichtern und der Druck auf die Konjunktur abnehmen.

finanzwelt: Abschließend: Wie lautet Ihre Prognose für 2024 und welche Empfehlungen würden Sie aussprechen?

Wurm» Auch wenn der globale Aktienmarkt, geprägt durch die USA, Anzeichen von Übertreibungen aufweist, erwarten wir in der Summe ein ansprechendes Jahr für die Aktienmärkte. Einige neue Allzeithochs können erreicht werden, wie wir es zuletzt schon vereinzelt beobachten konnten. Besonders hervorzuheben sind hier neben US-Standardwerten auch US-Nebenwerte, die einen sehr hohen Anteil ihrer Umsätze auf dem Heimatmarkt generieren. Sie sind auch wesentlich günstiger bewertet als ihre großen Pendants. Im Bereich der Industriestaaten fällt Japan positiv auf. Ein Ende der Nullzinspolitik und steigende Löhne sollten den Konsum ankurbeln und das Wirtschaftswachstum stärken. Darüber hinaus machen sich aktionärsfreundliche unternehmenspolitische Veränderungen bereits in steigenden Aktienkursen bemerkbar. Für europäische Aktien sehen wir insbesondere Potenzial in langfristig ausgerichteten Zukunftsbranchen, die vom steigenden Einsatz Künstlicher Intelligenz profitieren. Neben dem Technologie-Sektor ist hier unter anderem auch der Health-Care-Sektor gut aufgestellt. Darüber hinaus bietet Europa seinen Investoren in der Summe sehr attraktive Dividenden, welche im Falle sinkender Zinsen wieder attraktiver werden sollten. Insgesamt sehen wir für den Anleihemarkt ebenfalls gutes Potenzial in diesem Jahr, da unser Kernszenario auf einem tendenziell schwachen Wirtschaftswachstum und sinkenden Zinsen – insbesondere am kurzen Ende der Zinsstrukturkurve – basiert. Da diese Entwicklung wie oben beschrieben sehr datenabhängig sein wird, sollten Investoren allerdings (unverändert) mit hohen Schwankungen rechnen. Neben kurzen Laufzeiten empfehlen wir, im Bereich der Unternehmensanleihen auf gute Bonität zu setzen und längere Durationen mit US- und EU-Staatsanleihen abzudecken. (ml)