Wir präferieren derzeit tendenziell Investment-Grade-Unternehmensanleihen

25.07.2023

Kapitalmarktstratege Ivan Domjanic. Foto: M&G

Mit Blick nach vorne stellen sich Investoren die Frage, ob die Hausse an den Börsen weitergeht. Ist hier noch viel Luft nach oben? Woher könnten weitere Impulse kommen? Welche Regionen stechen bei der Betrachtung hervor. Ivan Domjanic, Kapitalmarktstratege für die DACH-Region bei M&G Investments, stand finanzwelt für ein ausführliches Interview zur Verfügung.

finanzwelt: Angesichts der Krisen, schwächelnder Konjunktur und Inflation, welche Erwartungen hegen Sie für die Entwicklung der internationalen Aktienmärkte in den kommenden Monaten?
Ivan Domjanic» Die Aktienmärkte haben sich in der ersten Jahreshälfte überraschend stark entwickelt. Ein Treiber dürfte die sinkende Inflation gewesen sein, die wiederum ein baldiges Ende der Zinserhöhungen erwarten lässt. Hinzu kam dann die Aufregung rund um das Thema künstliche Intelligenz, welche die Kurse einiger technologielastigen Titel regelrecht befeuert hat. Dem stehen andererseits die konjunkturellen Sorgen, die nach wie vor bestehen, entgegen. Es ist also nicht gerade einfach, derzeit eine eindeutige Einschätzung zu den Aktienmärkten abzugeben. Daher bevorzugen wir eine ausgewogene Sichtweise: Ja, ein Abwärtstrend der Wirtschaft scheint sehr wahrscheinlich. Aber entscheidend wird sein, wie stark der Abschwung im Vergleich zu den aktuellen Erwartungen tatsächlich ausfällt und wie schnell oder langsam die Inflation absinkt, denn das dürfte wiederum für die Entwicklung derRenditeniveaus maßgeblich sein. Und wie wir im Jahr 2022 gesehen haben, werden die Aktienkurse durchaus stark von den Renditeniveaus beeinflusst.
Schaut man sich die Bewertungen an, so sind viele Märkte derzeit relativ moderat bewertet – z.B. Europa oder Japan. In den USA sind die Bewertungen zwar deutlich angespannter, allerdings gibt es auch dort eine große Bandbreite von günstigen bis hin zu völlig überteuerten Titeln. Insgesamt betrachtet sieht es so aus, dass die globalen Aktienmärkte die Risiken einer milden Rezession bereits eingepreist haben – einen tieferen Einbruch jedoch nicht. In diesem Umfeld wird der Markt daher wahrscheinlich datengesteuert bleiben.Im Falle einer weichen Landung könnte noch Potential für die zweite Jahreshälfte bestehen, insbesondere für die günstigeren Märkte. Sollten die nächste Daten jedoch enttäuschen, dann müsste wohl jederzeit mit einer Korrektur gerechnet werden.

finanzwelt: Wachstumsaktien stehen wieder ganz oben auf der Liste. Sind die USA „the place to be“?
Ivan Domjanic» Ja, in der Tat hatten Wachstumstitel in der ersten Jahreshälfte die Nase vorn – im Gegensatz zum vergangenen Jahr. Zum einen haben die Renditeniveaus den rasanten Anstieg aus dem letzten Jahr nicht fortgeführt – damit hat sich ein großer Gegenwind für die Wachstumstitel abgeschwächt. Zum anderen hat das Thema künstliche Intelligenz v.a. die Kurse der großen Technologietitel angetrieben. Diese Titel sind natürlich besonders im US-Markt sehr dominant. Ich würde aber nicht davon ausgehen, dass die alte Dominanz der Wachstumstitel, die wir seit der Finanzmarktkrise in 2008 gesehen haben, dauerhaft zurückkehren wird.
Nüchtern betrachtet erscheinen US-Aktien und v.a. die Wachstumstitel gerade nach den jüngsten Kurszuwächsen insgesamt überteuert im Vergleich zu anderen Märkten. In den vergangenen Jahren wurde zwar ein gewisser Bewertungsaufschlag durch die höhere Qualität und das relativ stärkere Gewinnwachstum von US-Aktien begründet. Die jüngsten Verwerfungen bei den US-Regionalbanken und das relativ gedämpfte Gewinnwachstum machen einen so hohen Bewertungsaufschlag wie wir ihn aktuell sehen aber immer weniger nachvollziehbar, insbesondere im Vergleich zu Europa und Japan.
Das heißt jedoch nicht, dass in den USA keine attraktiven Aktien zu finden wären. Schließlich haben sich sehr viele Titel in den USA deutlich schwächer entwickelt als der von den Mega-Caps dominierte S&P 500 Index. Gerade jetzt, wo die Bandbreite an unterschiedlichen Wertentwicklungen und Bewertungen so groß ist, lohnt sich eine gute Titelselektion.

finanzwelt: Wie bewerten Sie aktuell das Chance-Risiko-Profil von europäischen Aktien?
Ivan Domjanic» In Europa gab es sehr pessimistische Ausgangsprognosen, insbesondere bezogen auf Energieversorgung und Preisentwicklung. Dass diese am Ende nicht eingetroffen sind, hat europäischen Aktien geholfen. Außerdem gibt es eine Reihe von europäischen Unternehmen, die auf der globalen Bühne gut abschneiden. Diese kommen nicht nur aus einem einzelnen Sektor, sondern decken ein vielfältiges Spektrum ab: An der Rallye nahmen Firmen aus dem pharmazeutischen Bereich ebenso teil wie Industrie- und Konsumgüterunternehmen oder Unternehmen, die mit der Energiewende verbunden sind.
Die Rallye wurde in Europa also bislang deutlich breiter ausgetragen als beispielsweise in den USA, was als positives Signal angesehen werden kann. In Anbetracht der relativ moderaten Bewertung des europäischen Aktienmarktes insgesamt sieht es also gar nicht so schlecht aus, natürlich vorausgesetzt, es kommt zu keiner schweren Rezession.

finanzwelt: Welche Branchen/Sektoren haben Sie vermehrt im Blick?
Ivan Domjanic» Sektoren, die derzeit attraktiv erscheinen sind beispielsweise der Energie- und Gesundheitssektor. Innerhalb des Technologiesektors sehen wir bei einigen Halbleiterunternehmen langfristig Chancen. Man kann das Ganze auch thematisch betrachten. In dem Fall könnten Infrastrukturunternehmen wieder interessant werden, nachdem diese im laufenden Jahr bislang hinter dem Gesamtmarkt zurückgeblieben sind.
Hierzu zählen beispielsweise Versorger, die für die grüne Energiewende unverzichtbar sein werden. Generell sind Unternehmen interessant, die an einer Verringerung des CO2-Ausstoßes arbeiten. Natürlich sind Themen wie künstliche Intelligenz ebenfalls spannend für uns. Aber man sollte hier die Bewertungen nicht außer Acht lassen und vielleicht eher nach Unternehmen aus der zweiten Reihe Ausschau halten anstatt nach den Gewinnern der ersten Stunde, die teilweise schon sehr teuer erscheinen.

finanzwelt: Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in China hinsichtlich Wachstumsperspektiven und Bewertung ein?
Ivan Domjanic» In China sehen wir selektiv interessante Anlagemöglichkeiten. Die Wiedereröffnung Chinas nach der Pandemie hat zunächst große Begeisterung über einen erwarteten Aufschwung ausgelöst. Die Realität sieht jedoch so aus, dass nach einer Periode mit ständigen Lockdowns die Verunsicherung des chinesischen Konsumenten nach wie vor recht groß ist, d.h. die Chinesen sparen lieber als zu konsumieren. Hinzu kommt der sehr schwache Immobilienmarkt sowie eine vielerorts angespannte lokale Finanzsituation. Der Aufschwung verläuft somit nur schrittweise und deutlich ungleichmäßiger als erwartet.
Es gibt jedoch Spielraum für eine Lockerung der Finanz- und Geldpolitik. Mit der selektiven Unterstützung des Immobilien- und Infrastruktursektors – insbesondere im Hinblick auf die Energiewende – haben wir das bereits gesehen. Positiv ist ebenfalls, dass es für die chinesischen Entscheidungsträger keine inflationären Zwänge gibt.
Ein weiteres Thema ist natürlich die nach wie vor angespannte Lage zwischen den USA und China, die sich in einer höheren Risikoprämie und folglich niedrigeren Bewertung niederschlagen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Spannungen vollständig verschwinden werden, daher müssen deren Auswirkungen bei der Aktienauswahl berücksichtigt werden. Der Silberstreif am Horizont ist, dass die beiden größten Volkswirtschaften der Welt durch den Handel sehr eng miteinander verflochten sind – sowohl direkt als auch indirekt über die asiatischen Handelspartner.
Übergeordnet sind wir mit Blick auf die unternehmensspezifischen Entwicklungen zuversichtlich: Eine Reihe großer chinesischer Unternehmen kommt beim Ausbau der Margen und den Gewinnen gut voran. Und das, obwohl das Wirtschaftswachstum schwächer ist als gewünscht. Auch haben viele Firmen Barmittel in Form von Aktienrückkäufen an die Aktionäre zurückgeben. Zudem sind die Bewertungen diverser Unternehmen in China ziemlich günstig. Selektiv ist China also durchaus einen Blick wert.

finanzwelt: Wie lautet Ihre Botschaft für dividendenorientierte Anleger?
Ivan Domjanic» Wir sind grundsätzlich optimistisch was Dividendenaktien anbelangt. Seit es wieder einen Zins gibt, sind heutige Cashflows und damit Dividenden im Vergleich zu weit in der Zukunft liegenden Cashflows wertvoller für den Anleger geworden. Unsere Zuversicht betrifft allerdings nur Unternehmen, die in der Lage sind ihre Dividende kontinuierlich zu steigern.Denn nur so erhält der Investor einen guten Inflationsschutz. Wichtig ist außerdem auf die Bilanzen der Unternehmen zu achten. Eine hohe Verschuldung birgt das Risiko, dass die Profitabilität und die Investitionstätigkeit leiden werden, sobald die Schulden zu höheren Zinsen refinanziert werden müssen. Auch bei Dividendentiteln muss man also genau hinschauen.

finanzwelt: Der Zins ist zurück. Welche Anleihensegmente sehen Sie chancenreich?
Ivan Domjanic» Wir präferieren derzeit tendenziell Investment-Grade-Unternehmensanleihen, da diese Unternehmen weniger Probleme haben dürften sich bei höheren Zinsen zu refinanzieren als High-Yield-Emittenten. Auch eine Rezession sollten sie gut überstehen. Zwar sehen wir auch Chancen bei bestimmten Hochzinsanleihen, allerdings eher bei den solideren Titeln, die sich nahe an der Grenze zum Investment-Grade-Bereich befinden. Innerhalb der Unternehmensanleihen finden wir Finanztitel in Europa aussichtsreich, da diese nicht von der EZB aufgekauft und somit nicht verzerrt wurden. Damit haben diese Anleihen zum einen attraktivere Ablaufrenditen als Industrieanleihen und sind außerdem weniger betroffen von der Rückführung des Aufkaufprogramms der EZB. (ah)