Auf den Boden der Tatsachen

16.06.2020

Felix Herrmann, Kapitalmarktstratege bei BlackRock / Foto: © BlackRock

Was das für Anleger bedeutet

Kurzfristig dürfte die Aussicht darauf, dass Europa schneller aus dem Corona-Tief herauskommt, europäischen Risikoaktiva gut zu Gesicht stehen. Schließlich gibt die Erwartung, wie stark die Corona-Krise die einzelnen Volkswirtschaften trifft, aktuell klar den Takt an den Märkten vor. Europäische Aktien könnten somit durchaus noch eine Weile die Nase gegenüber ihren US-Pendants vorne haben – insbesondere dann, wenn sich die Weltwirtschaft ganz generell weiter erholt, was traditionell wiederum eher „zyklischen“ Regionen wie der Eurozone mehr Rückenwind verleiht.

Wer jetzt das große Comeback europäischer Aktien ausruft, könnte jedoch bald eines Besseren belehrt werden. Schließlich sägt die Corona-Krise an genau jenem Ast, auf dem große Teile der europäischen Wirtschaft sitzen: einer integrierten Weltwirtschaft. Vermutlich werden wir in zehn oder zwanzig Jahren auf die aktuelle Zeit zurückschauen und sie als den großen Wendepunkt der Globalisierung ausmachen. Keine Frage: Der Trend der De-Globalisierung hat sich bereits vor der Corona-Krise breit machen können. Durch die Krise erfährt er jedoch eine dramatische Beschleunigung, die viele über Jahre etablierte Wertschöpfungsketten schon sehr bald auseinanderreißen dürfte. In einer Umfrage gaben 89 Prozent der CFOs in den USA an, aufgrund der Corona-Krise die Wertschöpfungsketten ihrer jeweiligen Unternehmen widerstandsfähiger machen zu wollen – und das sogar recht bald, was wiederum fast zwangsläufig auf Kosten der Effizienz gehen wird. „Just-in-time“ wird also zu „just-in-case“. Denkt man diese Entwicklung zu Ende, landet man recht schnell bei der Erkenntnis, dass jene Regionen, die besonders stark von einem Funktionieren des Welthandels und an international integrierten und effizienten Wertschöpfungsketten abhängen, stärker unter den Spätfolgen der gegenwärtigen Krise leiden werden. Zu diesen Regionen zählt zweifelsohne Europa. Da die Corona-Krise auch den Megatrend der Digitalisierung befeuert, von dem Europa ebenfalls weniger stark profitieren dürfte als die USA mit ihren großen Tech-Giganten, spricht langfristig wenig für eine nachhaltige Outperformance europäische Aktien.

Noch viel höher als in Europa dürfte der strukturelle Schaden der Krise allerdings in den Schwellenländern ausfallen. Die letzten 40 Jahre haben den Emerging Markets einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg beschert. Wird die Globalisierung zurückgedreht, leiden spiegelbildlich wohl ganz besonders die verlängerten Werkbänke Chinas und der westlichen Welt, die in den letzten Jahrzehnten dank der Globalisierung ihren Wohlstand beträchtlich steigern konnten.“ (ah)