Umorganisation bei Selbstständigen nach Eintritt der Berufsunfähigkeit
16.12.2025

Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke. Foto: Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte
Das Oberlandesgericht Brandenburg entschied am 2. Juni 2025 (Az. 11 U 192/24), welche Anforderungen an die Umorganisation bei Selbstständigen gestellt werden, bevor ein Anspruch auf Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung entsteht. Im Mittelpunkt des Falls standen Fragen, ob eine selbstständige Kosmetikerin ihren Betrieb durch Umorganisation weiterführen kann, wann eine Berufsunfähigkeit tatsächlich vorliegt und ob eine Verweisung auf andere Tätigkeiten zulässig ist.
Eine Kosmetikerin machte Leistungen aus ihrer Berufsunfähigkeitsversicherung geltend. Nach eigener Darstellung der Versicherungsnehmerin konnte sie ihre Tätigkeit als selbstständige Kosmetikerin aufgrund einer degenerativen Wirbelsäulenerkrankung, Tinnitus, neurologischen Beschwerden bis hin zu hormonellen Problemen nicht mehr ausüben. Sie sah sich deshalb dauerhaft im besonderen Maße eingeschränkt und beantragte eine Berufsunfähigkeitsrente.
Der Versicherer lehnte das Begehren der Versicherungsnehmerin ab. Die erforderliche Einschränkung der beruflichen Tätigkeit von mindestens 50 % läge nicht vor. Zudem sei eine Umorganisation bei Selbstständigen – wie etwa durch ergonomische Hilfsmittel, angepasste Terminplanung oder die Unterstützung durch Angestellte – zumutbar und ermögliche die Fortführung des Betriebs. Zusätzlich verwies der Versicherer auf mögliche alternative Tätigkeiten, die der Ausbildung und Erfahrung der Kosmetikerin entsprächen.
Sowohl das Landgericht Frankfurt (Oder) mit Urteil vom 18. Oktober 2024 (Az. 15 O 15/22) als auch das Oberlandesgericht Brandenburg kamen zu dem Ergebnis, dass keine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit vorliegt. Die geforderte Leistungseinschränkung von mindestens 50 % wurde nicht erreicht. Trotz gesundheitlicher Beschwerden könne die Kosmetikerin zudem ihren Betrieb – insbesondere nach einer Umorganisation – weiterführen.
Das Oberlandesgericht Brandenburg stellte klar, dass eine Kosmetikerin nicht nur Aufgaben aus der Durchführung kosmetischer Behandlungen übernehmen kann. Vielmehr sei der Beruf der selbstständigen Kosmetikerin dadurch geprägt, dass die Arbeit frei organisiert werden kann. Zur Tätigkeit als Kosmetikerin gehörten dabei: Terminplanung, Wechsel zwischen Sitzen und Stehen, Einsatz von Hilfsmitteln und Pausen gehören zum typischen Tätigkeitsprofil.
In diesem Zusammenhang machte das Oberlandesgericht Brandenburg deutlich, dass eine selbstständige Kosmetikerin ihre Arbeit durch Umorganisation (siehe: Umorganisation eines Friseurmeisters nach Berufsunfähigkeit (OLG)) so gestalten kann, dass Belastungen reduziert werden. Dazu gehören etwa der Einsatz ergonomischer Möbel, Haltungswechsel während der Behandlung oder die Einplanung kurzer Erholungspausen. Belastungen können ebenfalls durch eine flexible Terminvergabe abgefedert werden. Diese Gestaltungsmöglichkeiten zählen zum Wesen und selbstständiger Arbeit und prägen die Lebensstellung. Solange eine Tätigkeit mit solchen Anpassungen noch durchführbar bleibt, liegt keine Berufsunfähigkeit vor.
Selbstständige müssen also zunächst prüfen, ob organisatorische Anpassungen ausreichen, um die Berufsausübung fortzusetzen. Erst wenn auch diese Möglichkeiten ausgeschöpft sind, kann von Berufsunfähigkeit gesprochen werden.
Die Versicherungsnehmerin führte zahlreiche gesundheitliche Einschränkungen an (s.o.) Die zentrale Frage war, ob die Kosmetikerin durch diese Leiden ihren Beruf zu mindestens 50 % nicht mehr ausführen konnte. Nachdem mehrere Sachverständigengutachten ausgewertet worden waren, kam das OLG Brandenburg zu dem Ergebnis, dass die von der Versicherungsnehmerin vorgelegten Befunde keine so gravierenden Ausfälle belegten, um eine Berufsunfähigkeit anzunehmen. Weder bei der Feinmotorik noch bei der Belastbarkeit der Hände oder beim Bewegungsapparat zeigten sich Einschränkungen, die eine dauerhafte Berufsunfähigkeit begründen konnten. Auch die genannten Begleiterkrankungen wie Tinnitus oder hormonelle Störungen fanden in den medizinischen Befunden keinen Nachweis für eine Leistungseinschränkung von 50%.
Dieses Urteil macht deutlich, wie streng Gerichte bei der Umorganisation bei Selbstständigen prüfen (vgl. BGH Urt. vom 12. Juni 1996 – IV ZR 118/95, OLG Dresden Urt. vom 15. Mai 1999 – 3 U 2853/98). Für Kosmetikerinnen und andere Freiberufler bedeutet dies: Maßgeblich ist nicht allein das Vorliegen von Beschwerden, sondern ob das konkrete Tätigkeitsprofil unter Berücksichtigung zumutbarer Umorganisation noch ausgeübt werden kann. Medizinische Unterlagen müssen konkrete Funktionsausfälle belegen, die auch durch Umorganisation bei Selbstständigen nicht mehr kompensierbar sind. Pauschale Schmerzangaben oder theoretische Befürchtungen genügen nicht.
Alles in allem ist die Schwelle zur Berufsunfähigkeit hoch. Wer Leistungen beanspruchen will, muss nicht nur gesundheitliche Einschränkungen vorweisen, sondern auch darlegen, warum die konkrete berufliche Tätigkeit nicht durch Anpassungen fortgeführt werden kann. Für die Praxis ist entscheidend: Eine präzise Darstellung des eigenen Berufsbilds und belastbare medizinische Nachweise sind unverzichtbar, wenn Ansprüche aus der Berufsunfähigkeitsversicherung durchgesetzt werden.
Lehnt ein Versicherer die Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente ab oder verweigert er die Beitragsbefreiung, kann eine rechtliche Prüfung sinnvoll sein.
Ein Gastbeitrag von Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke, Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und Fachanwalt für Versicherungsrecht.

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