Wie risikofrei ist der risikofreie Zins?
01.10.2025

Was haben die jüngsten politischen Turbulenzen in Paris, steigende Renditen in Tokio und die Haushaltsdebatten in Washington mit Ihrem Anleiheportfolio zu tun? Auf den ersten Blick scheinbar wenig. Auf den zweiten Blick alles. Fiskalpolitischer Druck führt weltweit in entwickelten Nationen zu Verwerfungen. Wachsende Defizite, eine alternde Bevölkerung, anhaltende politische Herausforderungen befeuern einen tiefgreifenden Wandel, der alte Fundamente des Finanzmarktes erschüttert: Neigt sich das Zeitalter, in dem Staatsanleihen die unangefochtenen sicheren Häfen waren, seinem Ende zu?
Vermögensverwaltung Ein Blick auf Europa illustriert diesen Wandel besonders plastisch. Derzeit können sich dutzende erstklassige europäische Unternehmen, also Emittenten mit InvestmentGrade-Rating, günstiger am Kapitalmarkt finanzieren als der französische Staat. Der Markt stellt hier eine fast schon ketzerische Frage: Ist die Bilanz eines global agierenden Qualitätsunternehmens mit starkem Cashflow und geringer Verschuldung mittlerweile solider als die eines G7-Staates? Die Anleihe-Spreads geben eine eindeutige Antwort: Immer öfter lautet sie "Ja".
Struktureller Gegenwind formiert sich
Auch wenn zum aktuellen Zeitpunkt viele politische Schlagzeilen das Tagesgeschäft und die Nachrichtenlage dominieren, so ist der fundamentale Treiber nicht durch die Wahl eines neuen Ministerpräsidenten zu heilen. Im Zentrum dieser Entwicklung steht der demografische Wandel. Eine immer ältere Bevölkerung trifft auf überlastete Sozialsysteme und immer weniger Beitragszahler. In vielen europäischen Ländern verhindert die demografische Zusammensetzung der Wählerschaft – mit einer zunehmenden Dominanz von Netto-Profiteuren des Sozialstaates – notwendige, aber unpopuläre Reformen. Gleichzeitig führt eine sinkende Erwerbsquote zu einem erheblichen Gegenwind für das langfristige Wirtschaftswachstum. Dies dämpft die potenziellen Steuereinnahmen und erschwert die künftige Schuldentragfähigkeit der Staaten fundamental. Ob und inwieweit Produktivitätsgewinne, beispielsweise durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Robotik, diesen demografischen Druck langfristig ausgleichen können, bleibt eine der entscheidenden, aber bisher unbeantworteten Fragen.
Dieser demografische Druck trifft auf eine ohnehin prekäre Lage: Wir sehen in vielen entwickelten Nationen, darunter die USA, Frankreich und Japan, eine bereits existierende Rekordverschuldung und strukturelle Defizite, die man – ohne zu übertreiben – als „Kriegszeit-Defizite“ bezeichnen muss. Eine solche Kombination aus demografischer Last und fiskalischer Unvernunft erzwingt eine fundamentale Neubewertung der Kreditwürdigkeit und langfristigen Schuldentragfähigkeit ganzer Staaten. Insbesondere Renditen für langlaufende Staatsschulden sind weiterhin im Aufwärtstrend. Treiber für die Renditen ist in der Regel eine Kombination aus langfristigen Inflationserwartungen, Laufzeitprämie (Anleger, die Kapital für eine lange Zeit binden, wollen dementsprechend belohnt werden) sowie einer Prämie für das Kreditrisiko. Üblicherweise wird dieses für G7-Staaten als sehr gering bepreist. Mit steigenden Zinskosten als Teil der Budgets scheint dieses Narrativ zunehmend hinterfragt zu werden.
Marktreaktion: Das Vertrauen schwindet und die Kosten steigen
Die Anleihemärkte reagieren unmissverständlich. Anleger verlangen eine spürbar höhere Kompensation dafür, dass sie Staaten ihr Kapital für lange Zeiträume anvertrauen. Dies ist einer der Treiber für den Zinsanstieg am langen Ende der Zinskurven und signalisiert, dass das Risiko, das Kapital über Jahrzehnte in Staatsanleihen zu parken, als höher wahrgenommen wird.
Manch einer mag ein baldiges Eingreifen der Zentralbanken erhoffen. Programme wie das TPI der EZB stehen als Rettungsanker bereit. Auch Stephen Miran, Neumitglied im Federal Reserve Open Commitee hat die Idee eingebracht, dass die amerikanische Notenbank doch künftig ein Drittes Mandat, das Sicherstellen von moderaten langfristigen Zinsen, ebenfalls berücksichtigen sollte. Doch selbst wenn Interventionen seitens der Zentralbanken kurzfristig die Marktstimmung beruhigen, lösen sie das strukturelle Problem nicht. Sie verschieben die Risiken lediglich und bergen die Gefahr, die Inflationsspirale erneut anzufachen oder moralisches Fehlverhalten der Fiskalpolitik zu fördern. Letztendlich könnte dieses Dilemma nur durch eine anhaltend, kontrollierte Geldentwertung oder enorme Produktivitätssteigerungen gelöst werden. Als Währungshüter kann man nur das eine vorantreiben und auf das andere hoffen.
Das neue Playbook für Anleiheportfolios
In einer Welt, in der die Grenzen zwischen Geld- und Fiskalpolitik zunehmend verschwimmen und die Glaubwürdigkeit von Staatsschulden abnimmt, müssen Anleger umdenken und ihre Portfolien strategisch anpassen bzw. neu aufstellen.
Die entscheidende Frage ist: Funktioniert das alte „Flight-to-Safety-Playbook“ überhaupt noch? Werden wir bei den nächsten Marktverwerfungen wieder eine Flucht in Staatsanleihen sehen, oder könnten diese diesmal selbst zum Epizentrum der Unruhe werden?
Unser neues Playbook basiert auf drei fundamentalen Säulen:
1. Fokus auf Qualität & kurze Laufzeiten bei Unternehmensanleihen: Statt auf lange Staatsanleihen zu setzen, die einem doppelten Risiko (steigende Zinsen, sinkende Bonität) ausgesetzt sind, rücken erstklassige Investment-Grade-Unternehmensanleihen mit kurzen bis mittleren Laufzeiten in den Vordergrund.
Hier sind die Bilanzen oft transparenter und in vielen Fällen solider als die mancher Staaten. Wir konzentrieren uns darauf, attraktive Kreditrisikoprämien für kalkulierbares Unternehmensrisiko zu vereinnahmen, während wir das Zinsänderungsrisiko (Duration) durch bewusst kurze bis mittlere Laufzeiten minimieren. Weiterhin ergibt sich die Möglichkeit vom sog. Roll-Down-Effekt in Anleiheportfolios zu profitieren, wenn man Anleihen im Portfolio intelligent kombiniert.
2. Harte Assets als strategischer Anker: In einem Umfeld, in dem die Tragfähigkeit von Staatsschulden und die Werthaltigkeit von Fiat-Währungen hinterfragt werden, gewinnen nicht beliebig vermehrbare Vermögensspeicher ohne zentrale Gegenpartei an Bedeutung. Gold und Bitcoin etablieren sich zunehmend als strategische Absicherung gegen die Verwerfungen des Fiat-Geld-Systems und fiskalische Instabilität. Für dynamischere Ansätze können auch Minenunternehmen eine interessante Option darstellen, da sie überproportional von steigenden Rohstoffpreisen profitieren können.
3. Profiteure der Zinswende identifizieren: Das neue Zinsumfeld schafft auch Gewinner. Sektoren wie der Finanzsektor, der von steigenden Zinsmargen profitiert, oder Unternehmen mit geringer Verschuldung und starker Preissetzungsmacht, die höhere Zinskosten besser absorbieren können, könnten strukturelle Begünstigte dieses Wandels sein.

Marktkommentar von Andreas Heinrich, Portfoliomanager bei der Hansen & Heinrich.

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