Eine Wette gegen KI ist eine Wette gegen Amerika – und umgekehrt
29.10.2025

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In den vergangenen Monaten haben viele Investoren begonnen, ihr Engagement an den US-Märkten zurückzufahren und stärker in europäische Aktien umzuschichten. Auf den ersten Blick wirkt diese Bewegung plausibel: Europas Indizes haben zuletzt besser performt, die Bewertungen erscheinen attraktiver, und politische Unsicherheit in den USA sorgen für Schlagzeilen, die manchem Anleger unbehaglich erscheinen.
Doch dieser Richtungswechsel könnte sich als vorschneller Irrtum erweisen. Denn wer sein Engagement im US-Markt auf Basis aktueller Schlagzeilen oder kurzfristiger Bewertungsvergleiche reduziert, blendet die langfristigen strukturellen Stärken Amerikas aus. Tatsächlich bleibt die US-Wirtschaft das globale Epizentrum technologischer Innovation – und das hat unmittelbare Konsequenzen für Anlegerportfolios.
Über Jahrzehnte hinweg haben die USA ein einmaliges Ökosystem geschaffen, das Unternehmensgründungen nicht nur ermöglicht, sondern auch systematisch fördert. Hochschulen, Risikokapital, Kapitalmärkte, Unternehmenskultur und Regulierung greifen hier in einer Weise ineinander, die weltweit ihresgleichen sucht. Das Ergebnis: Die meisten Unternehmen, die das Potenzial haben, ganze Branchen umzukrempeln oder neue Märkte zu schaffen, sind amerikanisch – sei es, weil sie dort gegründet wurden, ihre Gründer dorthin gezogen sind, um zu wachsen oder sie wegen einer Notierung an einer US-Börse ihren Sitz verlagert haben.
Besonders deutlich wird das derzeit am Beispiel der KI. Rund 80 % des globalen Venture-Capitals, das in KI-Startups fließt, fließt zu US-Firmen. Nirgendwo sonst finden Gründer vergleichbare Finanzierungsmöglichkeiten, Zugang zu Talenten und Marktnähe. Für Anleger heißt das: Wer den US-Markt verlässt, stellt sich wohl gegen das bedeutendste Innovationsfeld unserer Zeit. Das transformative Potenzial der Künstlichen Intelligenz wird sich nicht in abstrakten Visionen, sondern in harten Unternehmensgewinnen niederschlagen. KI erhöht schon heute die Profitabilität führender US-Konzerne. Unternehmen wie Netflix, DoorDash oder Shopify optimieren mit Hilfe von KI ihre Logistik, ihr Kundenverständnis oder ihre Angebotssteuerung – und generieren so Effizienzgewinne, die direkt auf die Margen einzahlen.
Noch deutlicher zeigt sich der Effekt in Branchen, die traditionell eine hohe digitale Durchdringung haben. Softwareanbieter wie Cloudflare oder die großen Plattformen setzen KI längst produktiv ein. Diese Branchen gehören schon zu den margenträchtigsten Sektoren am gesamten Aktienmarkt, tendieren aber dazu, ein schlechtes Verhältnis von Arbeitskosten zu Umsatz zu haben. Die Einführung neuer KITools erhöht ihren Vorsprung gegenüber Wettbewerbern, die noch am Anfang stehen (und schafft die Aussicht, noch profitabler zu werden als sie heute schon sind).
Aus Text wird Bild
Ein Beispiel dafür ist die Kreativwirtschaft. Sie erwirtschaftet jährlich mehr als 2 Bio. Dollar Umsatz – und Generative KI ist hier eine echte Disruption. Wir beginnen erst zu verstehen, wie sie die Kreativität beflügeln kann. Heute lassen sich Bilder aus einfachen Textanweisungen erzeugen – auf eine Weise, die vor wenigen Jahren noch undenkbar schien. Bisher galt das meiste Interesse den „Alleskönner“-Chatbots wie ChatGPT. Doch spezialisierte Werkzeuge für Anwender mit tiefem Fachwissen eröffnen besonders attraktive Investitionschancen.
Unter diesen sticht der Videospezialist Runway AI hervor. Das New Yorker Start-up entwickelt sowohl KI-Modelle für Bilder als auch die Plattform, um sie einzusetzen. Abonnenten können Videoclips erstellen – entweder auf Basis eines KI-generierten Standbilds innerhalb der Software oder aus einem importierten Referenzfoto oder -video. Die Nutzer beschreiben in Alltagssprache, was sie sehen möchten, und können Kameraeinstellungen wie Zoom, Neigung oder Bewegungen steuern.
Generative KI kehrt die Logik der Computergrafik-Entwicklung um. Früher hatten Künstler volle Kontrolle über ihre Werkzeuge, waren aber durch technologische Bausteine limitiert – etwa die Zahl der darstellbaren Polygone oder die Qualität von Lichteffekten. Heute hingegen können KI-Modelle bereits extrem lebensechte Bilder erzeugen – die Herausforderung liegt darin, die Modelle genau so steuern zu können, wie man es möchte.
Kommerzielle Anwendungen gibt es schon heute. Runway wird in der Vorproduktion für bewegte Storyboards genutzt und in der Nachproduktion für schnelle Effekte. Podcaster verwenden es, um animierte Videoversionen ihrer Shows zu erstellen. Ein großer Einzelhändler hat die Software eingesetzt, um 3D-Modelle von Möbeln für seine Website zu visualisieren – mit messbar höheren Verkaufszahlen. Ein Vorteil von Runway gegenüber KI-Technologien wie autonomem Fahren: Die Software muss nicht perfekt sein, um nutzbar zu sein.
Innovationsführer USA
Wer also US-Aktien meidet, verzichtet nicht nur auf Diversifikation, sondern vor allem auf das Ertragspotenzial aus dem zentralen technologischen Trend unserer Zeit. Es ist, als hätte man in den 1990er-Jahren die Internetökonomie ignoriert oder in den 2010er-Jahren die Plattformökonomie – ein Fehler, der Anleger teuer zu stehen gekommen wäre. Allerdings war es in solchen Zeiten auch wichtig, selektiv vorzugehen, und das gilt auch heute noch.
Natürlich hat auch Europa innovative Unternehmen hervorgebracht. Doch im globalen Vergleich bleibt die Diskrepanz frappierend: In den letzten 50 Jahren entstanden in den USA rund 70-mal so viele Start-ups mit einem Wert von über 10 Mrd. Dollar wie in der gesamten Europäischen Union. Das ist kein Zufall, sondern Ausdruck struktureller Unterschiede. Während in Europa die Kapitalmärkte fragmentiert und die Risikobereitschaft gering sind, bietet das US-System Gründerinnen und Gründern einen nahezu unbegrenzten Zugang zu Kapital und Märkten. Investoren profitieren davon gleich doppelt: zum einen über die Innovations¬prämie einzelner Firmen, zum anderen über die strukturelle Marktführerschaft des gesamten US-Ökosystems.
Die Erfahrung zeigt: Während kurzfristig die politische Unsicherheit für Volatilität sorgt, setzen sich mittelfristig die Innovationskraft und die Gewinnstärke der Unternehmen durch. Gerade in Phasen, in denen der Markt vermeintlich skeptisch auf Amerika blickt, lohnt sich deshalb ein kühler Kopf. Eine Wette gegen US-Aktien ist am Ende nichts anderes als eine Wette gegen die Zukunft.
Ein Beitrag von Ben James, Director, Baillie Gifford

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