Zur Zukunftsfestigkeit der Europäischen Sozialstaaten
30.07.2015

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Alle europäischen Staaten altern. Dafür sind drei sich überlagernde und verstärkende Entwicklungen verantwortlich.
(1) die Zunahme der Lebenserwartung,
(2) die anhaltend niedrigen Geburtenraten und
(3) der Wechsel zwischen den geburtenstarken
(„Baby-Boom“) und geburtenschwachen („Pillenknick“) Jahrgängen.
(fw) Für die Sozialversicherungssysteme ist das Verhältnis zwischen der älteren und jüngeren Bevölkerung relevant, das im Altenquotienten zum Ausdruck kommt. Betrachtet man die Entwicklung des Altenquotienten im Zeitverlauf, zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen den europäischen Ländern. In Schweden setzte die Alterung am ehesten ein, dann folgten Großbritannien, Italien, Belgien, Dänemark und Frankreich; erst dann kamen Deutschland und Österreich. Heute weisen Italien, Deutschland und Griechenland die höchsten Altenquotienten auf. Viele der osteuropäischen Länder dagegen sind noch lange nicht gealtert, werden dies aber zukünftig verstärkt tun. Im Jahr 2060 werden die osteuropäischen Länder dann zu den Ältesten in Europa zählen.
Die Staatsausgabenquoten liegen in Europa im Durchschnitt mit einem Anteil von fast 50 % am Bruttoinlandsprodukt deutlich höher als beispielsweise in den USA oder in Japan. Innerhalb Europas gibt es aber große Unterschiede. Der mit Abstand größte Teil der Staatsausgaben entfällt auf die Sozialausgaben. Für diese wird im Durchschnitt der EU-27 etwa ein Fünftel des BIP ausgegeben. Dabei sind die Sozialausgaben der Teil der Staatsausgaben, der auch am stärksten zwischen den verschiedenen Ländern variiert. So reicht der Ausgabenanteil für die soziale Sicherung von etwa 25 % in den skandinavischen Ländern und Frankreich bis zu halb so hohen Werten in einigen osteuropäischen Staaten.
Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der damit einhergehenden Bevölkerungsalterung ist es besonders bedeutsam, wie sich die altersspezifischen Sozialausgaben entwickeln. Insgesamt sind die Ausgaben für Ältere in der Vergangenheit deutlich angestiegen. Dies kann zu einem großen Teil aus dem steigenden Gewicht der älteren Generation erklärt werden. Dabei hat die Ausweitung der Sozialausgaben für Ältere nicht zu einer Verdrängung anderer Sozialausgaben geführt. Folglich haben die höheren Sozialausgaben für Ältere zu einer Ausweitung des Sozialstaates geführt. Derzeit haben die Sozialausgaben für Ältere in Italien mit 16,5 % des BIP die größte Bedeutung. Es folgen Griechenland, Frankreich, Österreich und Portugal. In Deutschland liegen die Ausgaben mit 11,4 % im oberen Mittelfeld. Bezüglich des demografischen Wandels würde dies in vielen Ländern der EU künftig einen starken Anstieg der Sozialausgaben für Ältere bedeuten.
Besondere Belastungen kommen dabei auf die Länder zu, die eine hohe Alterung zu erwarten haben und bei denen zugleich die Sozialausgaben für Ältere besonders hoch sind. Bis vor kurzem haben die Entwicklungen in Italien und Deutschland hohe Belastungen für die Zukunft angezeigt. Beide Länder haben Reformen beschlossen, die diesem Anpassungsdruck gerecht werden und die Belastungen für die Zukunft deutlich reduzieren. Von entscheidender Bedeutung für die Belastung der Beitragszahler zur Rentenversicherung ist das Verhältnis von (sozialversicherungspflichtigen) Erwerbstätigen und Rentnern. Eine Reduktion der Arbeitslosigkeit führt zu einem Anstieg der Erwerbstätigkeit und reduziert damit die Belastungen durch Beiträge zur Rentenversicherung für den Einzelnen. Insofern ist eine gute Arbeitsmarktpolitik ein wesentlicher Bestandteil einer sinnvollen Rentenpolitik. Außerdem kann eine Erhöhung der Erwerbsquoten die demografisch bedingten Belastungen reduzieren. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Gruppe der Älteren. Sofern diese vor dem Renteneintrittsalter nicht mehr erwerbstätig sind, befinden sie sich häufig im (Vor-)Ruhestand. Dies impliziert, dass ihre Nichterwerbstätigkeit nicht nur zu verminderten Beitragseinnahmen führt, sondern auch zu erhöhten Rentenzahlungen. Für die EU-27 zeigt sich eine deutliche positive Korrelation zwischen den Erwerbsquoten insgesamt und den Erwerbsquoten der 50- bis 64-Jährigen.
Derzeit streuen die Erwerbsquoten in der EU zwischen 60 % und 80 %. Gerade im Süden und Osten Europas liegen die Erwerbsquoten deutlich unter denen im Norden. Hier bestehen erhebliche Potenziale, altersbedingte Belastungen zu reduzieren. Bei gegebenen Renten sinkt die Belastung der Beitragszahler, wenn die Arbeitsproduktivität und das Lohnniveau zunehmen, während die Sozialausgaben konstant bleiben. Allerdings ist in den meisten Ländern auch die Rente zumindest teilweise an die Lohnhöhe gekoppelt. Dennoch führen Produktivitätssteigerungen zu einem gewissen Rückgang der Beitragsbelastung. In der Vergangenheit konnten die EU Länder in sehr unterschiedlichem Ausmaß Produktivitätsgewinne realisieren.
Im Süden und Osten Europas könnte durch verstärkte Ausgaben für Bildung sowie für Forschung und Entwicklung der Produktivitätsfortschritt beschleunigt werden. Aber auch in den anderen Ländern werden hier die selbst gesteckten Ziele der Lissabon- Strategie noch verfehlt, so dass noch Verbesserungen möglich sind. Von zentraler Bedeutung ist das Renteneintrittsalter. Dieses wird zunächst durch das gesetzliche Renteneintrittsalter bestimmt. In der Mehrzahl der europäischen Länder liegt dieses für Männer bei 65 Jahren und für Frauen bei 60 Jahren. In den osteuropäischen Ländern und auch in Frankreich und Malta liegt allerdings das gesetzliche Renteneintrittsalter für Männer deutlich darunter. Das effektive Renteneintrittsalter und die vergleichsweise geringen Erwerbsquoten der Älteren zeigen, dass das gesetzliche Renteneintrittsalter häufig nicht erreicht wird. Zurückzuführen ist dies in vielen EU-Ländern auf die Möglichkeit zum Renteneintritt nach einer Mindestanzahl an Beitragsjahren und der Frühverrentung. Insofern muss also nicht nur das Renteneintrittsalter, sondern auch die Mindestanzahl an Beitragsjahren heraufgesetzt werden. Eine Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung, wie von der EU-Kommission vorgeschlagen, würde die Erwerbsphase automatisch mit der steigenden Lebenserwartung verlängern. Die Ruhestandsphase würde über die Altersjahrgänge gleich bleiben und nicht mehr wie bisher immer länger werden.
Die in Deutschland beschlossene und in diesem Jahr begonnene schrittweise Anhebung des Regelrenteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre kommt dieser Entwicklung über die nächsten Jahrzehnte relativ nahe.
Um die Belastungen der Erwerbstätigen bei Eintritt der Baby-Boomer in den Ruhestand abzumildern, ist stärkere individuelle Vorsorge bei einer gleichzeitigen graduellen Absenkung des gesetzlichen Rentenniveaus notwendig. Die Förderung der privaten Altersvorsorge, insbesondere durch die Riester-Rente, hat in Deutschland die richtigen Impulse gesetzt.
Die Möglichkeiten zur Frühverrentung in der Vergangenheit haben gerade in Deutschland eine Gesellschaft geprägt, die schon in vergleichsweise jungem Alter die Rente ins Auge fasst. Hier muss ein Perspektivenwechsel stattfinden. Dafür bestehen zurzeit aber gute Chancen. Zukünftig werden Unternehmen immer stärker einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften haben. Diese werden andererseits höhere Abschläge bei der Rente erfahren, sofern sie vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Folglich sollte sowohl bei Arbeitgebern als auch Arbeitnehmern das Interesse an einem längeren Arbeitsleben bestehen. Damit dieses erreicht wird, müssen ältere Arbeitnehmer besser gefördert und in das Arbeitsleben integriert werden.
Für den notwendigen Perspektivenwechsel bedarf es langsamer Anpassungsprozesse im Denken und Handeln. Um diese Abläufe zu gewährleisten, muss die Politik eine Planbarkeit durch langfristig festgelegte Rahmenbedingungen ermöglichen.
Ziel dieser Studie ist es, zum einen zu untersuchen, wie die europäischen Sozialstaaten bisher vom demografischen Wandel betroffen sind, und zum anderen aufzuzeigen, wie sie auf die damit einhergehenden Herausforderungen reagieren können, um ihre Zukunftsfestigkeit zu stärken.

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