Versichert – Verpflichtet – Verunsichert: Was Beratung heute leisten müsste, aber oft nicht mehr kann

21.08.2025

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Ein Friseurbesuch kostet heute mehr als ein solider BU-Schutz. Und trotzdem: Wer über Vorsorge nachdenkt, denkt selten an den Ernstfall. Sondern eher an Zahnreinigung, Impfschutz oder ein paar Euro im ETF-Sparplan. Das ist kein Versäumnis der Menschen. Es ist die Folge einer Gesellschaft, die Risiken ausblendet – und in der die politische Diskussion oft erst dann laut wird, wenn es längst zu spät ist.

Pflichtversicherung?

Die Debatte kommt regelmäßig mit dem Hochwasser. Kaum steigt der Pegel, folgt der Ruf nach der Elementarpflichtversicherung. Ein Reflex, der verständlich ist. Aber er greift zu kurz. Denn eine Pflicht ersetzt nicht das Verständnis für das, was sie absichert. Und sie ersetzt auch nicht das Gespräch darüber, welche Verantwortung man selbst trägt. Wer glaubt, man könne den Schutz vor Extremwetter einfach per Gesetz verteilen, unterschätzt die Aufgabe. Die Pflicht mag ein Instrument sein. Aber ohne Beratung, ohne Wissen, ohne das Warum dahinter, bleibt sie genau das: ein Pflichtprogramm. Und auch die Politik kann sich nicht dauerhaft aus der Verantwortung stehlen. Wer nur über Versicherungspflicht diskutiert, aber Hochwasserschutz, Bauplanung und Klimaanpassung vernachlässigt, betreibt Symptombekämpfung – nicht Vorsorge. Wer Risiken verwalten will, muss sie auch verhindern wollen.

Wer berät eigentlich noch?

Doch genau an dieser Stelle tut sich die nächste Baustelle auf: Der Rückgang an Vermittlern ist kein Zukunftsszenario – er ist längst Realität. Gleichzeitig steigen Komplexität, Regulatorik und Unsicherheit. Das Ergebnis: Menschen entscheiden sich aus Angst falsch – oder gar nicht. Und während sich Beratung aus der Fläche zurückzieht, zieht die Technik ein. Künstliche Intelligenz wird gefeiert – dabei ist sie nur so gut wie der Mensch, der sie einsetzt. KI kann Prozesse beschleunigen. Muster erkennen. Antworten liefern. Aber sie weiß nicht, wer da vor ihr sitzt. Sie spürt nicht, ob jemand gerade ein Kind bekommen hat, sich um die Eltern sorgt oder einen Neustart plant. Beratung ist keine Rechenaufgabe. Sie lebt vom Gespräch, vom Vertrauen, vom Zuhören. Deshalb dürfen wir nicht zulassen, dass Technologie die Verantwortung verdrängt. Wer heute digital berät, muss doppelt genau wissen, was er tut. Denn wer sich auf KI verlässt, ohne zu verstehen, was dahintersteht, handelt nicht innovativ – sondern leichtsinnig.

Beratung ist Verantwortung, kein Produktversprechen

Doch wie konnte es so weit kommen? Die Antwort ist unbequem und zeigt ein strukturelles Versäumnis: Wir haben zu lange geglaubt, dass sich Vertrauen durch Regulierung ersetzen lässt. Dass Informationsblätter genügen, wo früher echte Gespräche geführt wurden. Und dass sich finanzielle Bildung irgendwie „mit der Zeit“ einstellt. Ein Trugschluss, der Folgen hat. Denn: Wer junge Menschen nicht erreicht, bevor sie ihre ersten finanziellen Entscheidungen treffen, der verliert mehr als Kunden. Er verliert eine Generation. Eine Generation, die Versicherung nicht mit Absicherung verbindet, sondern mit Papierkram und Frust. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der Sicherheit brüchiger wirkt denn je. Durch geopolitische Krisen, Märkte im Ausnahmezustand oder ganz persönliche Einschnitte. In dieser Welt reicht ein gutes Produkt allein nicht mehr. Es braucht Klarheit. Nähe. Und Menschen, die nicht nur reagieren, wenn es brennt, sondern erklären, wo die Risiken liegen, bevor der Rauch aufsteigt.

Doch genau hier zeigt sich das strukturelle Versäumnis der Branche. Über Jahre hinweg haben wir Beratung auf Tools, Tarife und Prozessketten reduziert – und dabei den Kern aus den Augen verloren: den Menschen. Wer heute absichern will, muss zuerst zuhören. Nicht nur verkaufen, sondern übersetzen. Nicht belehren, sondern begleiten. Die Rolle von Versicherern verändert sich grundlegend. Vom Anbieter zum Möglichmacher. Zum Übersetzer einer komplexen Welt. Und wer nicht bereit ist, diese Rolle zu übernehmen, verliert nicht nur Relevanz, sondern seine Daseinsberechtigung. Wir brauchen keine neue Technik, denn die haben wir längst. Wir brauchen eine neue Haltung. Eine Rückbesinnung auf das, was Beratung einmal war: ein ehrliches Gespräch auf Augenhöhe. Denn nur wer versteht, wie Menschen heute leben, kann sie morgen richtig absichern.

Altersvorsorge mehr ins Bewusstsein rücken

Und dann ist da noch das größte Versprechen, das kaum jemand wirklich versteht: Altersvorsorge. Laut Umfragen glauben rund ein Drittel der unter 35-jährigen, später auf staatliche Hilfe angewiesen zu sein – und trotzdem schiebt mehr als die Hälfte dieser Generation das Thema lieber vor sich her. Die Riester-Rente wirkt veraltet, die angekündigte „Rente mit Aktien“ bleibt weitgehend erklärungsbedürftig, und die betriebliche Altersvorsorge erscheint vielen wie ein Buch mit sieben Siegeln. Kein Wunder also, dass das Vertrauen in langfristige Vorsorgemodelle bröckelt – nicht weil Produkte fehlen, sondern weil Verständlichkeit fehlt. Finanzwissen in Deutschland ist im internationalen Vergleich nur mittelmäßig ausgeprägt – gerade junge Menschen und Geringverdiener schneiden häufig äußerst schwach ab. Das Ergebnis: Altersvorsorge wird zum Elfenbeinturm. Sie gehört längst ins Alltagsbewusstsein – wie Mietvertrag, Steuer-ID oder Krankenversicherung – aber bisher fehlt uns der gemeinsame Schritt dahin.

Vorsorge beginnt nicht beim Produkt…

… sondern bei der Bereitschaft, hinzuschauen. In einer Welt, in der vieles im Wandel ist, braucht es Orientierung. Keine Schlagzeilenpolitik, keine digitalen Placebos – sondern Menschen, die erklären, einordnen und begleiten. Das ist der Job, den wir als Branche ernst nehmen müssen. Und zwar bevor sich die nächste Katastrophe überschlägt oder das nächste Tool am Markt ist. Denn am Ende zählt nicht, wer das lauteste Argument hat, sondern wer dafür sorgt, dass Menschen sich sicher fühlen – und wirklich verstanden.

Ein Beitrag von Martin Gräfer, Vorstand, die Bayerische