Demografie-Alarm: Deutschland droht der Fachkräfte-Kollaps

02.06.2025

Jan-Niklas Hustedt. Foto: © Sparkassen-Personalberatung GmbH

Deutschlands Gesellschaft altert – und mit ihr droht die Wirtschaft an Dynamik zu verlieren. Vor allem die neuen Bundesländer stehen hier oft im Fokus des Geschehens. Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeichnen ein klares Bild: Seit 1991 sind rund 727.000 junge Menschen im Alter von 18 bis unter 30 Jahren aus Ostdeutschland in westdeutsche Bundesländer gezogen. Über alle Altersgruppen hinweg summiert sich die Nettoabwanderung aus dem Osten auf knapp 1,2 Millionen Menschen.

Besonders gravierend wirkt sich dieser Trend auf die Altersstrukturen aus. „In Ostdeutschland liegt der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter, aus zwischen 18 bis 64 Jahren, bei nur 57,5 Prozent – im Westen dagegen bei 61,6 Prozent. In einzelnen ostdeutschen Kreisen, wie Dessau-Roßlau, sinkt der Anteil sogar auf 53,4 Prozent“, warnt Jan-Niklas Hustedt, Geschäftsführer der Sparkassen-Personalberatung GmbH. Er selbst wurde in Sachsen-Anhalt geboren und lebt heute in Oschersleben, daher kennt der Experte die Herausforderungen vor Ort nicht nur aus der Statistik, sondern aus dem eigenen Alltag. „Ein deutliches Signal für die fortschreitende Überalterung ganzer Regionen.“

Boom in Städten, Flaute auf dem Land

Junge, gut ausgebildete Menschen verlassen die Heimat, während Zuwanderung und Integration nicht im gleichen Maße für Ausgleich sorgen. Unternehmen spüren die Folgen: Laut dem OWF Transformationsbarometer 2025 sehen 56 Prozent der Ostdeutschen weiterhin ein großes Wirtschaftspotenzial in der Region. Gleichzeitig geben mehr als die Hälfte den Fachkräftemangel als größte Herausforderung an. Die Energiepreise folgen hier erst auf dem zweiten Platz. Besonders alarmierend: 40 Prozent der Befragten erwarten künftig in keiner Branche ein großes Wachstum, in Thüringen sogar mehr als jeder Zweite.„Die wachsende Kluft zwischen prosperierenden Großstädten und schrumpfenden Regionen verstärkt sich zunehmend. Wirtschaftswachstum konzentriert sich auf urbane Zentren wie Leipzig, Dresden und selbstverständlich Berlin – während ländliche Räume strukturell zurückfallen“, weiß der selbst in Ostdeutschland lebende Experte. Er sieht im Rückkehrerengagement eine große Chance: „Wer einst in den Westen ging, bringt oft Erfahrung, Fachwissen und Motivation mit – vorausgesetzt, die Rückkehr wird durch attraktive Rahmenbedingungen erleichtert.“ Die wirtschaftlichen Folgen des demografischen Wandels lassen sich bereits heute in vielen Regionen beobachten: Unternehmen müssen Aufträge ablehnen, weil Personal fehlt, Innovationen verzögern sich, Investitionen werden zurückgestellt. Die Produktivität stagniert, und die Wettbewerbsfähigkeit leidet – nicht nur im innerdeutschen, sondern insbesondere auch im internationalen Vergleich.

Arbeitsmarkt im Umbruch

Die künftigen Herausforderungen sind klar erkennbar: Bis 2040 werde es laut aktuellen Analysen etwa 900.000 Arbeitsplätze weniger geben. Besonders betroffen sind die Baubranche, die öffentliche Verwaltung, der Einzelhandel, die Lebensmittelindustrie sowie der Bereich Bildung und Erziehung. „In diesem Zusammenhang bieten sich für Unternehmen aber auch Chancen durch innovative Arbeitsmodelle, Digitalisierung und gezieltes Rückkehrerengagement: Menschen, die in den Westen gezogen sind, lassen sich durch attraktive Angebote und regionale Perspektiven zurückgewinnen“, weiß Hustedt. „Das stärkt nicht nur die demografische Struktur, sondern auch die Wirtschaftskraft vor Ort.“ Darüber hinaus setzen sich flexible Arbeitsformen und hybride Modelle zunehmend durch, um Fachkräfte auch in ländlichen und strukturschwachen Regionen zu binden. Fachkräfte existieren nämlich, aber nicht dort, wo sie gebraucht werden.

Flexibilität statt Fachkräftelücke

Während viele Arbeitnehmer längst flexible Karrierewege einschlagen, hinken Arbeitgeber in ihrer Anpassungsfähigkeit hinterher. Alte Strukturen verhindern neue Lösungen – obwohl attraktive Standortförderung, Homeoffice-Modelle und bessere Gehälter helfen könnten, benötigtes Personal zu binden. „Neben einer gezielten Einwanderungspolitik und der Vereinfachung der Anerkennung ausländischer Qualifikationen braucht es vor allem mehr Flexibilität in Unternehmen: Homeoffice, Teilzeitmodelle und attraktive Standortförderung könnten helfen, Fachkräfte zu gewinnen und zu halten“, so Hustedt. „Entscheidend ist, dass das Verfahren zur Anerkennung ausländischer Qualifikationen vereinfacht und Beschäftigungsmöglichkeiten effizienter gestaltet werden. Dabei müssen Unternehmen eine stärkere Entscheidungsfreiheit darüber erhalten, welche Fachkräfte ihren Anforderungen entsprechen, anstatt dies allein durch staatliche Vorgaben regulieren zu lassen.“ Eine gezielte Einwanderungspolitik in den Arbeitsmarkt ist deshalb entscheidend – nicht nur, um vorhandene Lücken zu schließen, sondern um langfristig dem demografischen Trend entgegenzuwirken. Zudem sollten Weiterbildungsprogramme und Umschulungen stärker gefördert werden, um vorhandene Potenziale im Inland besser zu nutzen. Auch eine engere Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft, Politik und Bildungseinrichtungen kann dazu beitragen, den Übergang junger Menschen in den Arbeitsmarkt zu erleichtern und regionale Disparitäten abzubauen.

Zuwanderung als Chance – nicht als Notlösung

Mehr Flexibilität bei Arbeitsmodellen, gezielte Standortförderung und eine konsequente Einwanderungspolitik könnten helfen, die vorhandenen Potenziale besser zu nutzen. Kanada und Australien zeigen, wie eine attraktive Anwerbung und Integration qualifizierter Zuwanderer gelingen kann. Deutschland benötigt dringend eine Vereinfachung der Anerkennung ausländischer Qualifikationen und weniger Bürokratie, ein Wunsch, den 68 Prozent der ostdeutschen Unternehmen an die Politik richten. „Wichtiger noch: Unternehmen sollten mehr Entscheidungsspielraum erhalten, um passende Fachkräfte auszuwählen – statt sich an staatliche Vorgaben zu binden“, erklärt Hustedt und hält fest: „Prozesse müssen schneller, transparenter und praxisnäher funktionieren. Nur so lässt sich der Rückstand aufholen, den andere Länder längst ausgebaut haben.“ Wer die aktuelle Situation als Chance begreift und entschlossen handelt, kann regionale Disparitäten verringern und die Wirtschaft sichern. Die Zeit zum Handeln läuft – und mit jedem Jahr wächst der Druck weiter. (fw)