Europas Moment ist gekommen

16.06.2025

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Die Dynamik der Weltwirtschaft verschiebt sich. Zwar bleibt die US-Konjunktur robust, doch die Vereinigten Staaten geraten zunehmend ins Hintertreffen. Europa nutzt das geopolitische und wirtschaftliche Vakuum, um sich mit einem neuen Selbstbewusstsein zu positionieren. Für Investoren und Unternehmen bedeutet das: Die Chancen in Europa steigen und könnten nachhaltige Wachstumsimpulse liefern. „Die kommenden Monate dürften entscheidend dafür sein, ob sich dieser Trend verstetigt“, sagt Thorsten Fischer, Managing Director und Head of Portfolio Management bei Moventum AM. Doch ein Faktor, der über Wohl und Wehe an den internationalen Finanzmärkten bestimmt, darf dabei nicht außer Acht gelassen werden: „Die prekäre Lage zwischen Israel und Iran könnte den positiven Trend für Europa teilweise ausbremsen.“

Keine Ausnahme hält ewig – auch nicht der „Exceptionalism“ der USA und ihrer Wirtschaft. Mit Beginn des zweiten Quartals 2025 sind die USA unter politischen und wirtschaftlichen Druck geraten und verlieren an Dynamik. „Ein zunehmend negatives Sentiment durchzieht Wirtschaft und Gesellschaft“, so Fischer. Wesentlicher Grund dafür: die konfrontative, isolationistische Politik unter US-Präsident Donald Trump. Seine protektionistischen Zölle verärgern die Handelspartner, auch innenpolitisch polarisiert sich die Stimmung, wie die jüngsten Auseinandersetzungen in Los Angeles zeigen. Zudem fungieren die USA nicht mehr als deeskalierende Macht, sondern treiben Konflikte voran. „Die alte Weltordnung scheint zu zerfallen, auch ausgelöst durch eine eskalierende geopolitische Lage vor allem im Nahen Osten, die eine neue Realität für Anleger heraufbeschwört“, sagt Fischer.

Das schlägt sich aktuell in den USA nicht nur in „weichen“ Daten wie dem Konsumentenvertrauen nieder, sondern inzwischen selbst in „harten“ Konjunkturindikatoren. „Bezeichnend ist hier der ISM-Einkaufsmanagerindex für den Dienstleistungsbereich, der mit einem Wert von 49,9 in den Kontraktionsbereich gerutscht ist“, erklärt Fischer. Die wachstumsschädliche Unsicherheit reflektiert auch der Index der Wirtschaftsüberraschungen, ein Gradmesser für das Verhältnis zwischen Erwartungen und tatsächlicher Entwicklung. Dieser ist zuletzt in negatives Terrain gefallen – ein Indiz für konjunkturellen Gegenwind.

In den nächsten Monaten könnte sich die US-Konjunktur daher leicht abschwächen. Gab es im ersten Quartal noch ein annualisiertes Wachstum von 2,1 Prozent, so sieht der Konsens unter internationalen Ökonomen für das zweite Quartal ein Plus von 1,7 Prozent, gefolgt von 1,2 Prozent im dritten Quartal. Seit Trump seine „reziproken“ Zölle zunächst ausgesetzt hat, ist die Rezessionswahrscheinlichkeit für die US-Wirtschaft nochmals gefallen. Der durchschnittliche US-Zollsatz liegt allerdings aktuell immer noch bei 16 bis 18 Prozent – ein Niveau wie zuletzt in den 1930er-Jahren. Diese bereits starke Belastung für Konsumenten und Unternehmen könnte bei einem erneuten Aufflammen des Zollstreits ansteigen und somit auch die US-Konjunktur abermals stärker in Richtung Rezession drücken. „Potenzielle Steuersenkungen und Deregulierungen könnten zwar im Jahresverlauf stabilisierend wirken“, so Fischer. „Mit einer spürbaren Belebung ist aber frühestens ab dem ersten Quartal 2026 zu rechnen.“ Ein Thema für Investoren bleiben weiterhin die ausufernden Schulden Washingtons, die sich auch ohne die geplanten Steuersenkungen auf 36 Billionen Dollar belaufen.

„Die jüngste Eskalation im Nahen Osten könnte vor allem die zuletzt freundliche Entwicklung der US-Inflation stoppen“, sagt Fischer. Nach der israelischen Luftoffensive gegen iranische Atomanlagen ist der Ölpreis sprunghaft um bis zu 14 Prozent gestiegen – der stärkste Tagesanstieg seit über fünf Jahren. Durch einen steigenden Ölpreis droht ein Inflationsschub über erhöhte Benzinpreise an der Zapfsäule. „Und für den US-Bürger gilt der Benzinpreis als die ultimative Messlatte für Inflation“, so Fischer. Sofern sich die erhöhten Ölpreise von Dauer zeigen, könnte es auch zu Verzögerungen bei Zinssenkungen in den USA kommen.

Anders erscheinen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Europa, das eine Art Wiedergeburt erlebt: Make Europe Great Again – MEGA statt MAGA. Die Politik der Alten Welt zeigt neue Entschlossenheit, die Wirtschaften werden reformiert, die Investitionsbereitschaft wächst. Auch das konjunkturelle Bild wirkte zur Mitte des zweiten Quartals freundlicher als in den USA. „Die Kombination aus geopolitischer Neuorientierung, wachsender Eigenverantwortung und fiskalpolitischer Initiative hat eine positive Dynamik ausgelöst“, erklärt Fischer. Insbesondere die Eurozone profitiert vom Vertrauensverlust der USA, was sich auch an den internationalen Kapitalmärkten zeigt: Der Zufluss in europäische Assets hat deutlich zugenommen, getragen von einem Imagewandel hin zu Stabilität und Planungssicherheit.

Ein zentraler Impuls geht dabei von Deutschland aus, das mit zwei Sondervermögen in Höhe von jeweils 500 Milliarden Euro und geplanten steuerlichen Entlastungen (unter anderem einer stufenweisen Absenkung der Körperschaftssteuer auf zehn Prozent beginnend ab 2028) neue konjunkturelle Akzente setzt. Diese Maßnahmen werden zwar erst mittelfristig voll wirken, doch sie senden ein klares Signal: Europa ist bereit, wirtschaftliche Verantwortung zu übernehmen und strategisch zu investieren.

Das aktuelle Wachstum in der Eurozone bleibt mit 0,1 Prozent im zweiten Quartal und ebenfalls moderaten 0,1 – 0,2 Prozent in den Folgequartalen zwar auf niedrigem Niveau, doch erscheint der Ausblick zunehmend freundlicher. Verbessert wird das Investitionsklima auch durch den klaren Zinstrend der Europäischen Zentralbank. Im Juni nahm sie die Leitsätze auf zwei Prozent zurück, mit einer weiteren Senkung auf 1,75 Prozent wird bis Jahresende gerechnet.

„Die USA bleiben zwar vorerst der Anker der Weltwirtschaft und ihres Wachstums“, so Fischers Fazit. „Doch die Kombination aus erratischer Zollpolitik, polarisierender Innenpolitik und dem Anwachsen der bereits hohen Schulden unterminieren das Vertrauen in die Vereinigten Staaten.“ Das ist Europas Chance – und eine potenzielle Chance für Anleger.

„Jedoch sollten Anleger aufgrund der aktuellen Geschehnisse im Nahen Osten im Hinterkopf behalten: Kapitalerhalt hat Priorität“, so Fischer. Diversifikation sei wichtiger denn je, besonders bei der regionalen Gewichtung. Inflationssensible Anlagen wie Gold, Rohstoffe und inflationsindexierte Anleihen helfen, das Portfolio zu stabilisieren. „Die übersichtlichen und klar geordneten Zeiten sind vorbei“, so Fischer. „In einer instabilen Welt sollten Anleger langfristig denken, kühl handeln und robuste Portfolios halten. Geopolitische Schocks werden kurzfristig dominieren, aber mit Substanz und Diversifikation bleibt man handlungsfähig.“ (fw)