Eine alpha-intelligente Führungskraft werden

02.06.2025

Barbara Liebermeister. Foto: © IFIDZ

Führungskräfte brauchen teils neue „Intelligenzen“, um in unserer komplexen, zunehmend von unvorhergesehenen Ereignissen geprägten Welt ihre Funktion noch effektiv wahrnehmen zu können. „Kompetenzen“ allein genügen hierfür nicht.

„Wie soll ich all die Herausforderungen, vor denen ich mit meinem Team stehe, meistern? Fehlen mir hierfür nicht teilweise nötige Kompetenzen?“ Das fragen sich zurzeit viele Führungskräfte, denn beim Wahrnehmen ihrer Aufgaben spüren sie oft, dass sie – salopp formuliert – mit ihrem Latein am Ende sind; zudem, dass sie sich als Führungskraft neu definieren müssen, um zu vermeiden, dass

• ihr Gefordert-sein in ein Überfordert-sein umschlägt und

• sie sukzessiv ausbrennen und immer weniger Wirkung entfalten.

Erfahrungsbasiertes Können allein reicht nicht mehr

Die obigen Fragen stellen sich Führungskräfte zurecht, weil sich neben den Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Handelns der Unternehmen auch die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter fundamental gewandelt haben. Sie wünschen sich unter anderem eine Unternehmenskultur, die ein selbstbestimmteres Arbeiten und eine höhere Work-Life-Balance ermöglicht. Aus diesen Veränderungen resultieren auch neue Anforderungen an und Herausforderungen für Führungskräfte. Um diese zu erfüllen bzw. zu meistern benötigen sie zwar auch neue „Kompetenzen“, jedoch primär „Intelligenzen“.

Wodurch unterscheiden sich Intelligenzen von Kompetenzen? Kompetenzen lassen sich durch ein wiederholtes Üben auf- und ausbauen. Sie manifestieren sich in Denk- und Verhaltens- bzw. Reiz-Reaktionsmustern, die wir regelmäßig zeigen – also Routinen, die mit konkreten Anforderungen korrespondieren. Intelligenzen hingegen manifestieren sich in der Fähigkeit, situationsübergreifend zu agieren.

Sie ermöglichen es,
- Bekanntes mit Unbekanntem zu verknüpfen,
- flexibel auf neue Kontexte zu reagieren und
- kreative Lösungen jenseits eingespielter Routinen zu entwerfen. Sie sind dynamisch, kontextsensibel und zeigen sich besonders in unstrukturierten, unsicheren Situationen.

Entwicklungen und Ereignisse antizipieren

Eng verknüpft sind die Intelligenzen mit drei Fähigkeiten die Führungskräfte in unserer komplexen, zunehmend von nur bedingt vorhersehbaren Veränderungen geprägten Welt brauchen.

1. Fähigkeit zur Antizipation – also zum gedanklichen Vorwegnehmen (möglicherweise) zu erwartender Ereignisse, um trotz bestehender Unsicherheiten entscheidungsfähig zu sein.

2. Adaptionsfähigkeit – also die Fähigkeit, flexibel und vorausschauend mit dem Wandel umzugehen statt sich ihm nur reaktiv anzupassen. Sie ist für Führungskräfte heute essenziell, denn: Wer nur reagiert, hinkt stets einen Schritt hinterher. Wer hingegen Entwicklungslinien früh erkennt, kann gezielt agieren – mit Weitblick und strategischem Gespür, was oft den entscheidenden Vorsprung bewirkt.

3. Metakognition – also die Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln zu reflektieren, um neue Lernfelder zu entdecken und sich flexibel Herausforderungen anzupassen. Für Führungskräfte ist diese Fähigkeit extrem wichtig. Sie ist sozusagen der erste Schritt in Richtung Alpha Intelligence.

Das Alpha Intelligence-Modell ist das Resultat mehrerer Studien, die das Institut für Führungskultur im digitalen Zeitalter (IFIDZ) im Dialog mit Hochschulen erstellt hat. Zudem flossen in dieses Modell die Erkenntnisse der praktischen Arbeit mit Führungskräften ein, bei der sich immer wieder zeigt, dass sie häufig in dieselben Führungsfallen tappen.

Die fünf Sphären der Alpha Intelligence

Eine zentrale Annahme des Alpha Intelligence-Modells ist: Führung kann nicht länger in starren Kategorien wie „Modulen“ und „Bereichen“ gedacht werden, weil die Welt fluide ist – voller Dynamik, Komplexität und ständiger Veränderung. Deshalb sprechen wir von den fünf Sphären der Alpha Intelligence, da Sphären wie die Elemente eines lebendigen Ökosystems wirken: Sie sind miteinander verzahnt, beeinflussen sich wechselseitig und entfalten ihre volle Kraft erst im Zusammenspiel.

Sphäre 1 – Alpha Personality (Persönlichkeitsintelligenz): Meister der Selbstführung sein

Alles beginnt bei der Führungskraft selbst. Nur wer sich selbst führen kann, kann andere führen. Das Konzept der Alpha Personality beschreibt eine Führungsqualität, die auf der Kunst der Selbstreflexion basiert und emotionale Stabilität in den Vordergrund stellt.

Personen mit einer ausgeprägten Alpha Personality führen zuerst sich selbst. Sie handeln aus einer tiefen Selbstkenntnis heraus und nicht aus dem Wunsch, zu gefallen. Sie haben dabei das große Ganze im Blick und verlieren sich nicht in Einzelaufgaben. Sie analysieren die jeweilige Ausgangssituation, möglichen Lösungswege und den angestrebten Zielzustand. Sie denken szenariobasiert, erkennen Trends frühzeitig und passen ihre Entscheidungen neuen Entwicklungen an. Deshalb sind sie auch in unsicheren Zeiten wirksam. Kontrolle loslassen, Haltung zeigen, Orientierung geben – das ist ihr Stil. Und ihre stärkstes Führungsinstrument ist der reflektierte Umgang mit sich selbst.

Sphäre 2 – Alpha Relations (Beziehungsintelligenz): Architekt der Verbindungen sein

In einer vernetzten Welt zählt nicht nur, was man weiß, sondern auch, wen man kennt – und wie man mit diesen Menschen umgeht. Alpha Relations beschreibt die Kunst, Verbindungen und Beziehungen zu schaffen, die echte Bewegungen auslösen – im Team und dessen Umfeld.

Alpha Relations bedeutet, empathisch zu handeln und Vertrauen zu schaffen. Führungskräfte, die über diese Intelligenz verfügen, machen Mitarbeiter zu Followern. Sie bauen Brücken, wo andere Mauern sehen, und schaffen Verbindungen, die auch tragen, wenn es mal schwierig wird. Sie wissen zudem, dass Erfolg selten im Alleingang entsteht. Also stärken sie ihr Team und stellt dessen Leistung in den Vordergrund – und nicht die eigene Person.

Sphäre 3 – Alpha Digitality (Digitalintelligenz): Virtuose der digitalen Welt sein

Alpha Digitality ist eine Haltung und Denkweise, die Chancen erkennt, wo andere nur Herausforderungen sehen. Sie steht für das Bestreben die digitale Welt aktiv zu gestalten. Dabei wird die Technologie als ein Tool verstanden, das den Menschen dient und Prozesse voranbringt.

Digitale Intelligenz heißt den digitalen Raum verstehen und bewusst gestalten. Wer Alpha Digitality lebt, bringt Struktur in die digitale Vielfalt, schafft Orientierung und reduziert Komplexität. Es geht um die verantwortungsvolle und zielorientierte Nutzung der technologischen Möglichkeiten gemäß dem Prinzip:
- Technologie soll den Menschen dienen – nicht umgekehrt. Oder:
- Der Mensch führt – Technologie folgt.

Führungskräfte mit einer hohen Alpha Digitality schaffen ein Umfeld, in dem digitale Werkzeuge nicht entmenschlichen, sondern bereichern.

Sphäre 4 – Alpha Resilience (Stabilisierende Intelligenz): Krisen-Flüsterer sein

Wenn eine Krise die nächste jagt, wird Resilienz vielleicht zur wertvollsten Währung moderner Führung. Eine ausgeprägte Alpha Resilience ermöglicht es, inmitten von Chaos den Überblick zu behalten und aus Krisen gestärkt hervorzugehen. Von dieser mentalen Stärke ihrer Führungskräfte profitieren auch die Teams. Denn wenn eine Person Stabilität und Souveränität ausstrahlt, überträgt sich dies auf ihr Umfeld: Resilienz ist ansteckend.

Alpha-resiliente Führungskräfte bleiben auch in Krisen ein Ruhe und Orientierung vermittelnder Pol. Sie bleiben, wenn andere hektisch werden, gelassen und treffen Entscheidungen mit Bedacht. Sie haben einen positiven Zukunftsblick – unter anderem, weil sie Krisen als Wendepunkte sehen, die auch den Beginn von etwas Neuem signalisieren. Sie erkennen die Chancen im Chaos und vermitteln ihrem Umfeld die Zuversicht „Wir schaffen das, wenn….“. Sie verbreiten Hoffnung und erzeugen Mut, wenn andere zweifeln.

Die Alpha Resilience macht letztlich den Unterschied zwischen bloßem Überleben und aktivem Gestalten aus. Sie verkörpert die Überzeugung, dass aus jedem Ende ein Neuanfang entsteht. Sie ist somit die Brücke zwischen Herausforderung und Erfolg.

Sphäre 5 – Alpha Synergy (Integrative Intelligenz): Cyborg der Kollaboration sein

Die Zukunft der Arbeit ist hybrid – nicht nur zwischen Mensch und Maschine, sondern auch Disziplinen, Kulturen und Ideen. In dieser neuen Ära der Zusammenarbeit spielt Alpha Synergy eine Schlüsselrolle; also die Fähigkeit, das Beste aus der digitalen und analogen Welt so zu vereinen, dass echte Innovation entsteht.

Alpha-Intelligente Führungskräfte kennen die Potenziale und Grenzen neuer Technologien. Sie wissen zudem, wie man die Lücke zwischen Technologie-Verständnis und Nutzung schließt.

Das Ziel von Führungskräften mit einer ausgeprägten Alpha Synergy ist es, Innovationen voranzutreiben. Für sie ist die Technologie-Nutzung ein Tool zum
- Weiterentwickeln von Menschen, Teams und Organisationen und
- Schaffen einer Zukunft, in der (technischer) Fortschritt und Menschlichkeit untrennbar miteinander verbunden sind.

Die Alpha Intelligence gezielt entwickeln

Das Alpha Intelligence-Konzept ist eine Einladung an Führungskräfte, eingefahrene Denk- und Verhaltensmuster zu hinterfragen und mutig neue Wege zu gehen. Es unterstützt sie dabei, ihr Potenzial zu entfalten, innovative Lösungen zu entwickeln und eine Führungskultur zu etablieren, die Wirkung zeigt: für die Menschen und Ergebnisse.

Das erfordert einen neuen Braincode und die Bereitschaft, bislang ungenutzte Intelligenzen in sich zu aktivieren. Dieser Entwicklungsprozess beginnt mit einer bewussten Reflexion des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns im Spannungsfeld von Mensch und Maschine mit dem Ziel,
- adäquat auf die sich rasch verändernden Rahmenbedingungen zu reagieren und
- die Chancen, die sich hieraus ergeben, aktiv zu nutzen.

Der Auf- und Ausbau der hierfür erforderlichen Intelligenzen erfordert Zeit und bedarf in der Regel einer gewissen Unterstützung – zum Beispiel, der eines Coachs. Diese Unterstützung sollten Unternehmen ihren Führungskräften gewähren, damit aus ihnen alphaintelligente Führungspersönlichkeiten werden.

Gastbeitrag von Barbara Liebermeister, Leiterin des Instituts für Führungskultur im digitalen Zeitalter (IFIDZ), Wiesbaden (www.ifidz.de).