Vom Tennisplatz ins Management: Die Karriere von Sören Friemel

31.10.2025

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Die unverrückbaren Prinzipien, die Führung unter Druck aufrechterhalten

2014 ernannte die International Tennis Federation Sören Friemel zum Head of Officiating mit Sitz in London. Die Rolle umfasste die Aufsicht über Schiedsrichterstandards global – Trainingsprogramme auf allen Kontinenten, Zertifizierungsprozesse, Koordination Olympischer Spiele, Davis Cup und Billie Jean King Cup Finals. Dies stellte einen fundamentalen Wechsel dar – von der Regelanwendung zum Aufbau der Systeme und zur Ausbildung der Menschen, die sie anwenden. Die Frage wurde: Wie gewährleistet man konsistentes, hochwertiges Schiedsrichterwesen in Turnieren von Melbourne bis Paris bis New York bis Tokio, mit Offiziellen aus verschiedenen Ländern, Sprachen und Ausbildungshintergründen?

Dann kam der September 2020 und die Entscheidung, die jedes über drei Jahrzehnte entwickelte Prinzip testen würde. Als US Open Referee stand Sören Friemel vor einer beispiellosen Situation: Die Weltnummer eins, Novak Djokovic, hatte nach dem Verlust seines Aufschlags eine Linienrichterin mit einem Ball getroffen. Die Linienrichterin war verletzt. Die Regeln waren klar über die Konsequenzen, aber der Kontext war außergewöhnlich – der größte Star des Turniers, der bestplatzierte Spieler, aus einem Grand Slam eliminiert aufgrund einer unbeabsichtigten Handlung.

Die Entscheidung wurde ohne Video-Wiederholung getroffen, stattdessen auf Fakten gestützt, die von Platz-Offiziellen berichtet wurden. „Es gab gar keine andere Entscheidungsmöglichkeit", lautete die Einschätzung, aber diese Gewissheit kam mit Kosten. Der Blutdruck war „im leicht erhöhten Zustand" während des Prozesses. Nach der Entscheidung, beim Verlassen des Platzes, gab es einen inneren Moment des Zweifels: „Ich hoffe mal, dass du das jetzt richtig gemacht hast." Prinzipien zu haben ist einfach. Sie anzuwenden, wenn sie etwas kosten – die größte Attraktion des Turniers zu eliminieren, Millionen Fans zu enttäuschen, eine Entscheidung zu treffen, von der man weiß, dass sie global geprüft werden wird – das ist der eigentliche Test.

Die Folgen brachten Lob. Die New York Times schrieb anerkennend. Tennis-Insider erkannten die Entscheidung als korrekt an. Aber es gab auch die persönliche Last, sich zu fragen, ob irgendeine alternative Interpretation vertretbar gewesen wäre, ob die Fakten gründlich genug gesammelt worden waren, ob etwas übersehen wurde. Das ist die Realität prinzipiengeleiteter Führung: Man bekommt keine Gewissheit. Man bekommt Verantwortung.

Die historische Entscheidung bei den US Open 2020 führte zu einer konkreten Verbesserung: Die US Open stellen Referees jetzt Tablets zur Verfügung, um potenzielle Disqualifikationsvorfälle zu überprüfen, bevor endgültige Entscheidungen getroffen werden. Selbst wenn die richtige Entscheidung getroffen wurde, konnte das System verbessert werden. Dies reflektiert reife Führung – zu erkennen, dass persönliche Korrektheit weniger zählt als institutionelle Exzellenz. Gute Führungskräfte bauen Systeme, die sie überdauern und unabhängig davon funktionieren, wer sie umsetzt.

Als ITF Head of Officiating skalierte dieses Systemdenken global. Zertifizierungsprozesse aufbauen, die konsistente Standards von regionalen Turnieren bis zu Grand Slams gewährleisteten. Trainingsprogramme schaffen, die Offizielle auf allen Kontinenten entwickelten. Bildungswege etablieren, damit talentierte junge SchiedsrichterInnen basierend auf Verdienst vorankommen konnten, nicht auf Verbindungen. Das Ziel: Standards sollten unabhängig davon sein, wer sie durchsetzt.

Ein anderes Prinzip erwies sich als gleichermaßen wichtig: Zugänglichkeit mit Grenzen. Als US Open Referee ab 2019 erforderte die Aufrechterhaltung angemessener Beziehungen zu SpielerInnen sorgfältige Navigation. „Ich bin nicht darauf aus, Gespräche zu führen – ich wahre komplette Neutralität." Erreichbar sein für legitime Fragen, während man Beziehungen vermeidet, die Objektivität kompromittieren. Diese Balance – hilfreich ohne parteiisch zu werden, zugänglich ohne vertraut zu werden – gilt in jedem Führungskontext, in dem Autorität und Dienstbereitschaft koexistieren müssen

Das letzte Prinzip beinhaltet die Erkenntnis, dass Evolution nicht bedeutet, die Wurzeln aufzugeben. 2022, nach acht Jahren in London, kam die Entscheidung zur Rückkehr nach Münster. Familie brauchte Unterstützung. Persönliche Verankerung zählte. Aber die Heimkehr bedeutete keinen Rückzug von der globalen Bühne. Die Arbeit setzte sich fort als Supervisor bei Grand Slams, als Berater für den Deutschen Tennis Bund, als jemand, der Glaubwürdigkeit aufgebaut hatte, die über jede einzelne Position hinausging.

Heute setzt der erfahrene Tennis-Offizielle seine Karriere in leitender Position bei einem führenden globalen Sportunternehmen fort und wendet dabei Sportführungsprinzipien auf Geschäftsentwicklung, Turnieroperationen und Markterweiterung an. Die Fähigkeiten übertragen sich: komplexe Stakeholder-Beziehungen managen, Standards unter Druck aufrechterhalten, Teams über Kulturen hinweg aufbauen, organisatorische Integrität schützen.

Prinzipien, die sich potenzieren

Jahrzehnte in der Sportführung offenbaren eine Wahrheit, die branchenübergreifend gilt: Prinzipien zählen mehr als Positionen. Grundlagen beherrschen, wenn sie langweilig erscheinen. Jeden Auftrag als wichtig behandeln, unabhängig vom Prestige. Systeme bauen, die andere befähigen, statt persönliche Fähigkeit zur Schau zu stellen. Integrität bewahren, wenn Kompromisse einfacher wären. Diese Entscheidungen potenzieren sich über die Zeit auf Weise, die im Moment unmöglich vorherzusagen ist.

Die Reise von jenem Tennisplatz in Münster auf die Weltbühne war nicht geplant – sie wurde verdient durch Tausende kleiner Entscheidungen, die über Jahrzehnte konsequent getroffen wurden. Für jeden, der eine Karriere in irgendeinem Bereich aufbaut, ist die Lektion klar: Fokus auf Exzellenz in dem, was vor einem liegt. Die Möglichkeiten folgen natürlich, wenn das Fundament solide ist.

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