Vom Piloten zum Produktivbetrieb

20.06.2025

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Generative KI ist in der Versicherungswirtschaft angekommen. Spätestens seit ChatGPT haben sich viele Unternehmen intensiv mit den Potenzialen der Technologie auseinandergesetzt und zahlreiche Pilotprojekte gestartet. Die Branche steht an einem Wendepunkt: Wie gelingt der Sprung vom erfolgreichen Testlauf in den Regelbetrieb?

Ein Blick in den Sammelband „Werttreiber Generative KI“ des InsurLab Germany gibt erste Antworten. Die zentrale Erkenntnis: Es mangelt nicht an Ideen, die eigentliche Herausforderung liegt in ihrer Umsetzung. Bisher sind viele Projekte noch in Pilotphasen oder einzelnen Fachbereichen verankert – der nächste Entwicklungsschritt wird die gezielte Integration von Gen AI in das Kerngeschäft sein.

Erste Schritte zur Skalierung

Rund zwei Jahre nach dem KI-Schub im Markt zeichnen sich erste strukturelle Muster ab. Während viele Unternehmen Proof of Concepts vorweisen können, bleibt die großflächige Skalierung oft noch aus. Die Gründe dafür sind vielfältig: Fehlende strategische Einbettung, fragmentierte Verantwortlichkeiten, unklare Zielbilder, fehlende Ressourcen und IT-Legacy. Ohne technologische Integration in bestehende Systeme und ohne klare Governance wird Gen AI schnell zum Innovationsprojekt ohne Anschlusswirkung. Einzelne Projekte zeigen bereits beachtliche Effekte. Bei der Zurich Gruppe Deutschland sank die durchschnittliche Bearbeitungszeit von Kundenanfragen um bis zu 50 %. msg erreichte in einem Vertriebsprojekt eine Erfolgsquote von über 84 % bei der automatisierten Erstbearbeitung. Und EPAM berichtet im Bereich ITEngineering von einer Verzehnfachung der Teamproduktivität und einer Verkürzung der Time-to-Market um 75 %. Diese Zahlen zeigen: Konsequent eingesetzt, verbessert Gen AI Effizienz und Kundenerlebnis. Besonders deutlich wird der Wandel in der Kundeninteraktion. Chatbots und virtuelle Assistenten, die bisher vor allem der Kostensenkung dienten, werden zu digitalen Kompetenzzentren. Ein System der BarmeniaGothaer verarbeitet über 300 integrierte Vertragsdokumente, lernt durch Feedback und erzielt rund 80 % Antwortgenauigkeit. Das Ziel: Zuverlässigkeit, auch bei komplexen Fällen.

Produktentwicklung: Das unterschätzte Einsatzfeld

Auffällig ist: Während Kundenservice und Schadenprozesse im Fokus vieler KI-Initiativen stehen, ist die Produktentwicklung bislang oft ein weißer Fleck auf der Roadmap. Dabei bietet Generative KI gerade hier die Möglichkeit, neue Tarife schneller zu modellieren, Produkte zielgruppenspezifisch zu personalisieren und Innovationszyklen deutlich zu verkürzen. Wer diesen Bereich frühzeitig erschließt, sichert sich klare Differenzierungsvorteile. Erste Praxisbeispiele zeigen, dass sich mit KI-basierten Entwicklungsansätzen nicht nur die Time-to-Market deutlich verkürzen lässt, sondern auch die Umsetzungsqualität steigt.

Governance & Kultur: Der doppelte Schlüssel

Skalierbarkeit ist nicht nur eine Frage der Technologie, sondern auch der Organisation. KI, die in Fachprozesse eingreift, muss nachvollziehbar und sicher funktionieren. Das erfordert ein neues Verständnis von Governance – nicht als Hürde, sondern als Voraussetzung für Vertrauen und Skalierung. Viele Versicherer stehen beim Aufbau entsprechender Strukturen jedoch noch am Anfang. Gleichzeitig braucht es eine Kultur, die Veränderungen zulässt. KI verändert nicht nur Arbeitsweisen, sondern auch Rollen und Entscheidungsprozesse. Unternehmen, die frühzeitig in Qualifizierung, Digital Leadership und Veränderungsfähigkeit investieren, sind klar im Vorteil. Denn am Ende entscheidet nicht die Technologie, sondern das Zusammenspiel von Mensch, Struktur und Haltung. Gerade hier lohnt sich der Austausch über Initiativen wie das InsurLab Germany.

Was Skalierung braucht

Die Skalierung von Generativer KI ist kein Selbstläufer. Aus den vorliegenden Praxisbeispielen lassen sich fünf Erfolgsfaktoren ableiten:

1. Konzentration statt Streuung: Statt viele kleine Piloten parallel zu fahren, sollten Unternehmen gezielt ein oder zwei strategisch relevante Anwendungsfelder auswählen – dort, wo Geschäftslogik, Datenlage und Umsetzungsreife zusammenkommen. Diese Use Cases lassen sich dabei wie ein Portfolio steuern: Es gibt Top-Cases und auch mal Flops – entscheidend ist gezieltes Investment mit hoher Return-Chance.

2. Interdisziplinäre Ownership: Gen AI betrifft nicht nur IT oder Innovation, sondern Fachbereiche, Datenschutz, Recht und Kommunikation. Nur gemeinsam lässt sich Silodenken vermeiden und Wert schaffen – sowohl auf fachlicher als auch auf unternehmerischer Ebene.

3. Messbare Ziele: Wer KI skalieren will, braucht mehr als Output-Kennzahlen. Entscheidend ist die Verknüpfung mit konkreten operativen und qualitativen Zielen – etwa Durchlaufzeiten, Zufriedenheit oder Fehlerquoten.

4. Organisationales Lernen: Skalierung bedeutet nicht nur Technologietransfer, sondern auch kontinuierliches Lernen, etwa durch Feedbacksysteme, Communities of Practice oder idealerweise nicht nur unternehmensintern, sondern auch unternehmensübergreifend.

5. Strategische Verankerung: KI-Initiativen brauchen Unterstützung von oben. Nur wenn Zielbild, Budgetverantwortung und Umsetzungspriorität im Top-Management verankert sind, ist eine Skalierung langfristig möglich.

Was jetzt zählt

Die Voraussetzungen für den erfolgreichen Einsatz von Generativer KI sind besser denn je. Jetzt gilt es, sie gezielt zu nutzen. Die nächsten zwölf Monate werden zeigen, ob Gen AI ein weiterer Hype bleibt – oder zu einem echten Mehrwert für die Versicherungswirtschaft wird. Wer es mit der Skalierung ernst meint, sollte jetzt priorisieren: Nicht alles gleichzeitig, sondern dort, wo Nutzen, Daten und Umsetzungsreife zusammenspielen. Jetzt zählt Geschwindigkeit. Wer zögert, verliert – kluge Kooperation ist gefragt, vor allem mit anderen Versicherern und Start-ups. Wer alles allein entwickeln will, verliert Zeit. Die Technologie ist da. Die Motivation auch. Jetzt kommt es auf die Umsetzung an. Strategische Konsequenz und operatives Tempo sind entscheidend.

Ein Beitrag von Dr. Philipp Johannes Nolte, Geschäftsführer, InsurLab Germany