Was kostet der Wiederaufbau der Ukraine?
30.09.2025

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Trotz der westeuropäischen Skepsis gegenüber möglichen Friedensgesprächen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und des russischen Präsidenten Wladimir Putin scheinen internationale Investoren ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf den Wiederaufbau der Ukraine und die damit verbundenen Investitionsmöglichkeiten zu richten. Andrew Ye, Investmentanalyst bei Global X, hat sich die Opportunitäten näher angesehen.
Die vierte schnelle Schadens- und Bedarfsbewertung für die Ukraine (RDNA4), die von der ukrainischen Regierung, der Weltbankgruppe, der Europäischen Kommission und den Vereinten Nationen in Auftrag gegeben wurde, schätzt die direkten Schäden in der Ukraine bis Dezember 2024 auf 176 Milliarden USDollar, gegenüber 152 Milliarden US-Dollar im Dezember 2023. Die Gesamtkosten für den Wiederaufbau und die Wiederherstellung in der Ukraine in den nächsten zehn Jahren werden auf der Grundlage der von Februar 2022 bis Dezember 2024 entstandenen Schäden auf 524 Milliarden US-Dollar geschätzt.
RDNA4 hebt neun Schwerpunktbereiche in drei Kategorien hervor: Sozialbereich, Infrastruktur und Minenräumung und Katastrophenschutz. Die Kategorie ‚Sozialbereich‘ konzentriert sich auf den Wiederaufbau und die Sanierung in den Bereichen Wohnen, Bildung und Wissenschaft, Gesundheit sowie Sozialschutz und Lebensunterhalt. Hinzu kommt der Bereich der öffentlichen Versorgung, die zur Kategorie Infrastruktur gehört: Energie und Bergbau, Verkehr sowie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung. Die Infrastruktur erstreckt sich über sieben der neun Schwerpunktbereiche und ist für die langfristige Entwicklung der Ukraine von zentraler Bedeutung.
Fokus auf langfristige Infrastrukturentwicklung
Die ukrainische Regierung betrachtet den Wiederaufbau nicht nur als Wiederherstellung, sondern als ‚Chance für einen Wandel‘. Eine Strategie des ‚besseren Wiederaufbaus“‘ legt den Schwerpunkt auf Resilienz und Nachhaltigkeit und schafft langfristige Chancen für Unternehmen aus den Bereichen Infrastruktur und Energie. Die Wiederaufbaumaßnahmen sind bereits im Gange, wobei RDNA4 den Finanzierungsbedarf für 2025 auf 17,32 Milliarden US-Dollar beziffert. Die gesicherte Finanzierung ist jedoch unzureichend, da die ukrainische Regierung und die Geber nur 7,37 Milliarden US-Dollar bereitstellen können. Es wird erwartet, dass privates Kapital eine wichtige Rolle bei der Schließung dieser Lücke spielen wird, wobei multilaterale Kreditgeber (IFC, Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und Europäische Kommission) Initiativen zur Erschließung privater Finanzierungen starten. Privates Kapital könnte ein Drittel des Gesamtbedarfs decken, vorausgesetzt, Reformen ermöglichen eine breitere Beteiligung.
Welche Branchen könnten profitieren?
Obwohl die aktuellen Einnahmen der Unternehmen aus der Ukraine angesichts des anhaltenden Konflikts kein verlässlicher Indikator für ihre zukünftigen Einnahmen aus der Ukraine sind, kann die Analyse von Unternehmen, die in Mittel- und Osteuropa tätig sind oder die in der Vergangenheit Projekte in der Ukraine durchgeführt haben, Aufschluss darüber geben, wer potenziell vom Wiederaufbau profitieren könnte.
Europäische Infrastrukturentwicklungsunternehmen könnten gut positioniert sein, um vom Wiederaufbau der Ukraine zu profitieren, da viele von ihnen in Mittel- und Osteuropa etabliert sind oder bereits Projekte in der Ukraine durchgeführt haben. So ist beispielsweise Ferrovial über seine Tochtergesellschaft Budimex ein wichtiger Akteur in Polen, wo 25 % des Auftragsbestands von Ferrovial entfallen. Als Beispiel für seine Präsenz dort sowie für seine Expertise im Eisenbahnbau wurde Ferrovials Budimex von PKP PLK, dem Betreiber der polnischen Eisenbahnen, ausgewählt, um zwei Abschnitte der Linie 7 zu modernisieren, die Warschau und Dorohusk mit der ukrainischen Grenze verbindet. Das Unternehmen hat auch zahlreiche andere Eisenbahnprojekte in Polen abgeschlossen, darunter den Bau der Danziger U-Bahn, die Modernisierung der Krakauer Stadtbahn und die Modernisierung des Bahnhofs in Wrocław.
Dies ist besonders relevant, da Polen seit langem als Drehscheibe für den Wiederaufbau der Ukraine gilt, da es eine lange Grenze zur Ukraine hat und seit langem ein Unterstützer des Landes ist. Die Rolle von Vinci beim Bau des 1,5 Milliarden Euro teuren Schutzbogens für Tschernobyl und seine 417 Millionen Euro schweren Aufträge im Bereich Verkehrsinfrastruktur in Tschechien unterstreichen das starke Engagement in Mittel- und Osteuropa. Allein in Tschechien erzielte das Unternehmen 2023 einen Umsatz von über einer Milliarde Euro. Auch die früheren Projekte von Acciona im Bereich erneuerbare Energien in der Ukraine (2019 wurde eine 57-MW-Solarstromanlage in der Nähe von Kiew im Wert von 55 Millionen Euro fertiggestellt) unterstreichen das langjährige Engagement des Unternehmens.
Verteidigung und Ingenieurwesen
Auch Unternehmen aus den Bereichen Verteidigung und Ingenieurwesen sind direkt in der Ukraine engagiert. Thales hat Vereinbarungen zur Gründung von Joint Ventures und zur Wartung der Radar-, Kommunikations- und elektronischen Kampfführungssysteme der Ukraine unterzeichnet. Leonardo liefert fünf Radarsysteme für den Wiederaufbau des ukrainischen Flugsicherungsnetzes, um die zivile Flugsicherungsinfrastruktur der Ukraine wiederherzustellen und zu verbessern. Palantir hat sich mit dem ukrainischen Wirtschaftsministerium zusammengetan, um das Ziel der ukrainischen Regierung zu unterstützen, 80 % der potenziell kontaminierten Flächen innerhalb von zehn Jahren produktiv zu nutzen.
Diese Maßnahmen stehen im Einklang mit der Priorität ‚Minenräumung und Zivilschutz‘ in RDNA4, wodurch diese Unternehmen potenziell sowohl für Wiederaufbau- als auch für Verteidigungsaufgaben positioniert werden.
Materialien & Ausrüstung
Anbieter von Schüttgütern, Stahlbau und Schwermaschinen sind aufgrund ihrer Größe weitere große potenzielle Nutznießer. Der Wiederaufbau wird voraussichtlich Millionen Tonnen Zuschlagstoffe, Zement und Stahl sowie einen dauerhaften Zugang zu Kränen, Erdbewegungsmaschinen und anderen Geräten erfordern. Baustofflieferanten wie der Baustoffriese CRH, der kürzlich Buzzis ukrainische Zementaktivitäten übernommen hat, sowie Produkt- und Ausrüstungsunternehmen könnten gut positioniert sein, um potenziell zu profitieren.
Kapital für die Energiewende
Über die anfängliche Wiederaufbauphase hinaus könnte der Ansatz des „Building Back Better“ auch erhebliche Auswirkungen auf die Energieinfrastruktur der Ukraine haben. Der Energiesektor war während des Konflikts einer der am stärksten betroffenen Sektoren. Die Schäden wurden bis zum 31. Dezember 2024 auf 20,51 Milliarden US-Dollar geschätzt und haben sich innerhalb eines Jahres mehr als verdoppelt. Im Rahmen der von der EU unterstützten Ukraine-Fazilität orientiert sich die Ukraine an der EU-Energiepolitik und konzentriert sich auf Energiesicherheit, erneuerbare Energien und Dekarbonisierung. So erhielt Vestas Wind Systems beispielsweise zwei Aufträge zur Lieferung von Windturbinen für das größte Windenergieprojekt der Ukraine. Zwar gibt es unmittelbarere Energieprobleme, doch wenn beim längerfristigen Wiederaufbau der Ukraine, wie von den politischen Entscheidungsträgern vorgeschlagen, der Schwerpunkt auf sauberer Energie liegt, könnte dies nicht nur Bau- und Ingenieurunternehmen, sondern auch Betreibern sauberer Energie zugutekommen.
Fazit
Obwohl der Verlauf des Konflikts ungewiss bleibt, eröffnen die jüngsten diplomatischen Entwicklungen die Möglichkeit einer Lösung. Mit einem Wiederaufbaubedarf von 524 Milliarden US-Dollar im nächsten Jahrzehnt, einer ‚Build Back Better‘-Strategie und breiter multilateraler Unterstützung könnte der Wiederaufbau der Ukraine erhebliche Investitionsmöglichkeiten bieten. In den Bereichen Bau und Ingenieurwesen, Verteidigung und Ingenieurwesen, Baustoffe, -produkte und -ausrüstung sowie saubere Energie könnten Unternehmen, die in Mittel- und Osteuropa tätig sind oder bereits Projekte oder aktuelle Vereinbarungen in der Ukraine haben, gut positioniert sein, um vom Wiederaufbau zu profitieren.

Marktkommentar von Andrew Ye, Investmentanalyst bei Global X.

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